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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Bernstein nur ein Beispiel für den Träger von Reibungselektrizität ist.«
    »Ja, so.« Hasselbrinck sperrte den Mund auf. »Meine Frau trägt ’ne Kette aus Bernsteinperlen …?«
    »Nein, auch die ist nicht gefährlich.«
    »Ja, wenn das so ist. Nichts für ungut, Herr Doktor.« Hasselbrinck nahm Eimer und Lappen und verschwand wieder.
    Abraham war sich keineswegs sicher, ob der Apparat wirklich so harmlos war, aber bei Professor Lichtenberg hatte zuvor alles tadellos geklappt, und er hoffte, bei ihm würde es genauso sein. Er erdete den Kuchen auf der Rückseite und griff zu einem Fell, um damit die Reibung zu erzeugen, als er abermals unterbrochen wurde. Schritte kamen die Treppe empor, näherten sich der Tür, und eine schmale Gestalt betrat den Saal. Es war Henrietta. Oder besser: Heinrich, denn sie trug ihr übliches
Habit,
ein sandfarbenes Kamelott, das gut zu ihrem heute wieder braunen Haar passte. »Guten Tag, Julius.«
    »Guten Tag, äh, Heinrich.« Abraham war genauso verlegen wie sein Besucher.
    Sie schwiegen und sahen aneinander vorbei. Dann lächelte Heinrich zaghaft und zog ein
Libell
unter der Jacke hervor. »Ich habe in diesem Heft die Aufzeichnungen. Du weißt doch, die Unterlagen über Entkrampfungsmittel vor Operationen, die ich dir gestern Abend geben wollte …« Er verstummte.
    »Ja, richtig. Äh, danke.« Abraham nahm die Papiere entgegen, und da er nicht wusste, wohin damit, legte er sie auf Pentzlins Bett.
    Wieder schwiegen sie. Und wieder war es Heinrich, der zuerst sprach. »Du hast sicher bemerkt, dass ich heute Morgen nicht bei Professor Lichtenberg war. Mir, äh, ging zu vieles im Kopf herum. Hast du … ich meine, hast du Alena etwas gesagt?«
    »Nein, habe ich nicht.«
    »Vielleicht ist es ganz gut so.«
    »Ja.«
    »Julius?«
    »Ja?«
    »Wir … wir können doch Freunde bleiben, nicht wahr?«
    »Natürlich.« Abraham hatte wieder das wunderhübsche junge Mädchen vor Augen, das ihn am Abend zuvor so zärtlich geküsst hatte. Noch jetzt glaubte er, den berauschenden Duft ihres Parfums zu spüren, und er war keineswegs sicher, ob er Heinrich jemals wieder unbefangen gegenübertreten könnte, aber das durfte er nicht sagen. »Es wird uns bestimmt gelingen.«
    »Das ist schön.«
    »Ja, schön.«
    »Ist das ein Elektrophor?«
    »Ja, ich wollte ihn gerade ausprobieren.« Abraham war froh, dass die Unterhaltung sich einem unverfänglicheren Thema zuwandte. »Sieh her, mit diesem Fell will ich auf dem unteren Teil der Maschine Reibungselektrizität in Form überschüssiger negativer Ladungen erzeugen. Anschließend werde ich den Metallteller daraufsetzen, wodurch die Influenz der elektrischen Ladungen eine Änderung des Potenzials gegenüber der Erde bewirkt …«
    Abraham dozierte noch eine Weile weiter, machte sich erneut an der Erde zu schaffen, hantierte hier und da und nahm anschließend den Metallteller wieder hoch, wodurch ein kräftiger Funkenschlag entstand. »Es funktioniert!«, rief er.
    Heinrich war einen Schritt zurückgesprungen. »Hast du das gesehen?«, fragte er aufgeregt.
    »Natürlich habe ich das gesehen. Ich habe den Funken ja selbst produziert.«
    »Nein, ich meine Pentzlin. Er hat sich bewegt!«
    »Was sagst du da?« Abraham konnte es kaum glauben. Sollte wirklich eingetreten sein, was er sich so sehr gewünscht hatte? Rasch wiederholte er den Vorgang und achtete dabei genau auf Pentzlin. Tatsächlich! Bei der Entstehung des Funkens zuckte der Arm des Patienten. »Das muss an den positiven und negativen elektrischen Ladungen liegen!«, rief er. »Sie füllen als blitzender Funke die Luft und wirken sich aus – genau so, wie ich es mir erhofft habe.«
    Heinrich freute sich mit ihm. Dann fragte er: »Bist du sicher, dass Pentzlin sich nicht nur erschreckt hat?«
    Abraham überlegte kurz. »Ich glaube nicht. Und selbst wenn es so wäre – der Zweck heiligt die Mittel. Komm, wir versuchen es gleich noch einmal.« Und während Abraham weiter das Gerät bediente, protokollierte Heinrich sorgfältig Pentzlins Reaktionen, um sie für die Wissenschaft festzuhalten.
    Wie sich zeigte, zuckte bei jedem dritten oder vierten Mal auch der Kopf des Patienten und einmal sogar der linke Fuß. Es konnte kein Zweifel mehr daran bestehen: Die Maschine war in der Lage, menschliche Bewegungen zu initiieren.
    Nachdem sie bei Pentzlin so viel Erfolg gehabt hatten, probierten sie es auch bei Burck und bei Gottwald, wobei Burck recht ähnliche Zuckungen zeigte, Gottwald jedoch nach

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