Das Lied der Klagefrau
verbundenen Verdienst einmal ganz abgesehen –, andererseits wusste sie, dass Abraham ihr fehlen würde. Er fehlte ihr schon jetzt. Zugegeben, er hatte zwei höchst verdächtige blonde Haare an seinem Gehrock gehabt, aber dafür gab es vielleicht eine einfache Erklärung. War die Frau des Krankenwärters Hasselbrinck nicht blond? Konnte der Wind die Haare nicht von irgendwoher herangeweht haben? Sicher gab es viele, völlig harmlose Erklärungen. Außerdem hieß es, man solle niemals jemanden verurteilen, ohne ihn vorher angehört zu haben. Und Abrahams Erklärung stand noch aus.
Seit dem ominösen Fund hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Was er jetzt wohl gerade machte? Ob sie ihm eine Nachricht schreiben sollte? Mutter Vonnegut könnte sie ihm aushändigen, heute Abend, wenn er wieder zurück war …
Mit diesen Gedanken stieg Alena die Treppe hinunter in die Küche, wo Mutter Vonnegut sie sofort bei der Hand nahm und hinaus zu Franz’ wartender Kutsche führte. Franz half ihr galant in den Wagen, ein Diener verstaute ihren Ranzen auf dem Dach, und schon knallte der Kutscher mit der Peitsche.
Das Gefährt setzte sich rumpelnd in Bewegung, die Witwe schneuzte sich mit einem großen Taschentuch und winkte anschließend heftig damit. Alena beugte sich aus dem Fenster und winkte zurück. »Auf Wiedersehen, Mutter Vonnegut.«
»Auf Wiedersehen, mein Kind. Pass, um Himmels willen, auf dich auf, ich kenn doch jede Falte in deinem Herzen. Gott beschütze dich!«
Franz saß neben Alena und lehnte sich erleichtert zurück. Er wollte etwas sagen, aber sie unterbrach ihn: »Ich habe ganz vergessen, Abraham eine Nachricht zu schreiben!«
»Ach, halb so schlimm.« Franz winkte ab. »Mutter Vonnegut wird ihm alles erklären.«
Das imposante Patrizierhaus der Familie Mylius lag in der Nähe des Kasseler Pferdemarkts. Es hatte insgesamt drei Stockwerke, siebzehn Zimmer, den sogenannten Großen Salon, den Kleinen Salon und eine Küche im Souterrain. Wie viele Menschen sich zurzeit in dem Haus befanden, wusste selbst Franz nicht genau zu sagen, doch wenn man von der Betriebsamkeit ausging, die in der Küche herrschte, mussten es mehrere Dutzend sein. Alena stand inmitten der hin und her huschenden Mägde und Gehilfen und schaute sich das Ganze eine Weile an. Sie hatte darum gebeten, sich als Erstes hier unten umsehen zu dürfen, denn vom Gesinde war in aller Regel am meisten zu erfahren.
»Bist du eine Nonne?« Alena fuhr herum und entdeckte ein vielleicht fünfjähriges Mädchen. Es hatte strubbelige rote Haare, Sommersprossen auf der Nase und einen vom Honignaschen verschmierten Mund.
»Ich war einmal Novizin in einem Karmelitinnenkloster.« Alena hatte sich, direkt nachdem ihr von einem Hausbediensteten ein Zimmer zugewiesen worden war, umgezogen und trug nun ihr schwarzes
Habit.
Die Erfahrung lehrte, dass einer Trägerin des Nonnengewandes Vertrauen und Respekt entgegengebracht wurden – vorausgesetzt, man nahm sie wahr. Letzteres schien hier angesichts der Hektik nicht möglich zu sein. Von dem Kind einmal abgesehen. »Ich heiße Alena. Und wie heißt du?«
»Mia!«, krähte die Kleine und zog an ihrem Kleid. Sie schien die einzig Vergnügte unter lauter Trauermienen zu sein.
»Aha, und was machst du hier?«
»Nichts!«
»Nun ja, immerhin hast du mich bemerkt und unterhältst dich mit mir.«
»Jaha! Und meine Mutti ist die Köchin!«
Alena kam eine Idee. »Kannst du mich zu deiner Mutti bringen? Ich muss etwas mit ihr besprechen.«
»Jaha!« Mia grapschte nach Alenas Hand und zog sie mit sich. Vor einer geschlossenen Tür machte sie halt. »Da ist meine Mutti drin.« Dann verschwand sie hüpfend.
Alena klopfte.
»Ich will jetzt nicht gestört werden, und wenn’s der junge Herr persönlich wär«, erklang es von drinnen.
Alena öffnete die Tür trotzdem. Sie sah in eine fensterlose Kammer, in der eine korpulente Frau an einem winzigen Tisch saß, vor sich eine brennende Kerze und daneben Schreibzeug und ein Wust von Papieren. »Wer seid Ihr, was wollt Ihr? Ich will nicht …«
Bevor die Köchin weitersprechen konnte, sorgte Alena dafür, dass diese schwieg. Sie bediente sich dazu eines Mittels, das niemals versagte – sie schlug langsam das Kreuz und murmelte dazu:
»In nomine patri et filii et spiritu sancti …«
»Verzeiht, Schwester. Wollt nicht unhöflich sein.«
»Mein Name ist Alena. Alena wie Magdalena, nach der heiligen Maria von Magdala.« Sie fand, es sei nicht nötig, der Köchin
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