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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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wie vor stocksteif dalag. »Mehr dürfen wir für heute nicht erwarten«, sagte Abraham. »Was wir erreicht haben, ist ohnehin schon ein kleines Wunder.«
    Heinrich korrigierte ihn: »Nicht wir, sondern du, Julius. Es war deine Idee. Du bist ein großartiger Arzt.«
    »Nicht doch.« Abraham spürte erneut Verlegenheit und fuhr deshalb rasch fort: »Lass uns für heute Schluss machen, Heinrich. Ich schlage vor, du gehst nach Hause, während ich deine Unterlagen über die Entkrampfungsmittel bei Augenoperationen durcharbeite. Ich habe ohnehin noch Dienst bis zum Abendessen.«
    »Du willst mich wohl los sein?«
    Abraham sah ihn an. »Nein«, sagte er langsam, »aber es ist besser, wenn du jetzt gehst.«
     
     
    Alenas Umzug in den Raum, den die Witwe Vonnegut »das halbe Zimmerchen« genannt hatte, währte nicht lange. Sie stellte dabei wieder einmal fest, dass es nur ganz wenige Sachen gab, die nicht Abraham, sondern ihr gehörten. Aber sie hatte zeit ihres Lebens nicht nach großem Besitz gestrebt.
    Während sie ihre persönlichen Dinge die Treppe hinuntertrug, konnte sie die Tränen nicht zurückhalten. Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt, denn ein Großteil ihres Zorns auf Abraham war verraucht. Aber das wäre eine Schwachheit gewesen, und überdies wollte sie vor der Witwe keinen Rückzieher machen.
    »Alena, hast du die Kartoffeln schon geschält?« Die Witwe hatte sich zwischenzeitlich hingelegt, während das Rindfleisch im großen Topf über dem Feuer köchelte. Nun erschien sie wieder in der Küche, offenbar mit regenerierten Kräften.
    »Nein, Mutter Vonnegut, ich bin noch nicht dazu gekommen.«
    »Mir scheint, es pressiert allmählich. Wenn die
Burschen
gleich vom
Collegium
hereinschneien, werden sie ausgehungert wie die Wölfe sein.«
    Die
Burschen,
das waren in diesem Jahr: Hannes, der Mathematik studierte, Jakob, der sich der Juristerei verschrieben hatte, Claus, der die Philosophie ritt, und Amandus, der auf das gleiche Pferd gesetzt hatte. Wie auf ein Stichwort erschienen sie in der Tür, und der erste, Amandus, ein hagerer Jüngling, der trotz seiner Schlankheit Berge von Essen verdrücken konnte, rief: »Was gibt’s denn Schönes, Mutter Vonnegut?«
    »Fast hätt es Rindfleisch mit Salzkartoffeln gegeben.«
    »Wieso denn fast?«, fragte Jakob, ein pickliger Siebzehnjähriger, aber Claus, der älteste, drängte sich vor und meinte: »Ist doch egal, was es gibt, Hauptsache, es reicht.«
    »Mir reicht’s auch gleich, ihr vorlauten Vögel! Kaum seid ihr im Nest, sperrt ihr die Schnäbel auf und schreit nach Essen. Aber so weit ist es noch nicht. Das Rindfleisch muss noch ein wenig schmurgeln, und statt der Salzkartoffeln gibt es Pellmänner, die könnt ihr selbst abpuhlen, dann geht’s schneller. Außerdem gibt es einen Salat von Rapunzeln, die schießen jetzt wieder überall in den Gärten ins Kraut. Und nun ab mit euch, wascht euch die Hände und kämmt euch. So wie ihr ausseht, würd euch die eigene Mutter nicht erkennen.«
    »Jawohl, Mutter Vonnegut.«
    Die vier verschwanden eiligst, und Alena warf eine große Portion Kartoffeln in einen Kessel mit heißem Wasser. Zwanzig Minuten würden die
Burschen
sich noch gedulden müssen, bis sie über das Essen herfallen konnten, aber die Witwe sagte: »Das ist Lirum Larum, sie fressen mir so oder so die Haare vom Kopf.«
    Eine halbe Stunde später saßen alle bei Tisch und aßen manierlich von ihren Tellern, denn die Witwe führte ein strenges Regiment. Allzu viel Geschwätz schätzte sie nicht und Störungen jeglicher Art ebenfalls nicht. Deshalb war sie auch wenig erbaut, als es plötzlich klopfte. »Wer ist da?«
    »Ich bin’s, Mutter Vonnegut.« Die Tür ging auf, und ein stattlicher junger Mann wurde sichtbar. Er verbeugte sich höflich vor der Runde und sagte: »Ich bin’s, der Franz.«
    »Franz Mylius?« Die Witwe fasste sich an die Stirn. »Aus Kassel? Der Herrgott vergebe mir, dass ich dich nicht gleich erkannt hab! Du hast doch damals mit dem Gottfried und dem Alex hier logiert?«
    »Ganz recht, und mit Julius und Alena ebenfalls.«
    »So ist es. Hör mal, Alena, hättest du den Franz gleich wiedererkannt? Na, ist ja auch egal, komm, Franz, schlag da keine Wurzeln, iss ein paar Pellmänner mit uns.«
    Da Franz zu zögern schien, schaltete Amandus sich ein: »Ihr könnt auch ein Bier haben.«
    »Genau«, fiel Claus ein. »Ist gutes Hardenberger und nicht so ein schandbarer Soff wie das Göttinger Gebräu. Neulich hatten wir von dem Zeug. Es

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