Das Lied der Klagefrau
war ekelerregend.«
»Jeder Schluck ein
Vomitiv
«, sagte Jakob.
»Pechös geht’s dem, der davon trinken muss«, sagte Hannes.
Amandus verkündete: »Das Göttinger Gebräu macht impot… äh, Verzeihung, Mutter Vonnegut.«
Über Franz’ Gesicht glitt ein Lächeln. Die Generationen der Studenten kamen und gingen, ihre Redensarten jedoch blieben immer gleich. »Es tut mir leid, dass ich ablehnen muss, aber ich bin in einer Sache hier, die keinen Aufschub duldet.« Sein Blick wanderte zu Alena und dann zur Witwe. »Darf ich Euch und Alena einen Augenblick allein sprechen?«
»Nanu, so förmlich? Aber sei’s drum, Franz. Am besten gehen wir in die Küche.« Die Witwe stand ächzend auf und strebte zur Tür. »Und von Euch
Burschen
will ich nichts weiter hören als Essgeklapper, verstanden?«
»Jawohl, Mutter Vonnegut.«
Als sie in der Küche waren, griff die Witwe zur Liqueurflasche und wies Franz einen Platz zu, aber Franz blieb stehen und sagte: »Verzeiht, Mutter Vonnegut, dass ich mich nicht setzen will, aber über unsere Familie ist großes Unglück gekommen. Meine arme Mutter verstarb gestern am Nachmittag gegen drei. Der alte Doktor Tann, unser Hausarzt, war bei ihr. Er sagte, die Hitze in der Brust hätte sie förmlich verbrannt. Ach, es ist ein großes Trauerspiel.« Er kämpfte sichtlich mit den Tränen.
Die Witwe und Alena schwiegen betreten. Dann nahm Alena ihn beim Arm. »Du setzt dich doch besser für einen Augenblick. Im Sitzen erzählt sich’s leichter.«
Franz gehorchte. Nach einer Weile sprach er weiter: »Das alles wäre vielleicht nicht so schlimm, denn ein Ende war abzusehen, und Mutter ist gottlob erlöst, nachdem die Geschwulst sich als inoperabel erwiesen hatte. Doch mein Vater ist seit gestern nicht mehr er selbst. Er war immer ein großer, starker, forscher Mann, nun hat er sich neben das Totenbett gesetzt, weint und brütet vor sich hin und lässt niemanden ins Zimmer. Nicht mal der Herr Pfarrer durfte hinein, um die Sterbesakramente zu spenden.«
»Das alles tut mir von Herzen leid, mein lieber Franz. Des Himmels Segen über deine arme Mutter.« Die Witwe, die trotz aller Resolutheit nah am Wasser gebaut hatte, schniefte und wischte sich eine Träne aus dem Auge.
Franz blickte Alena an. »Du bist es, die mir helfen könnte. Ich … ich muss zugeben, dass ich der Situation nicht gewachsen bin. Wenn wenigstens einer meiner drei Brüder bei mir wäre! Aber sie sind alle in Nordamerika, leben mit ihren Familien an der Ostküste, nachdem sie im Unabhängigkeitskrieg in einem hessischen Regiment dienten.« Franz schluckte. »Nur meine beiden Schwestern sind gekommen. Sie haben Dienerschaft mitgebracht, die sofort mit der unseren über Kreuz war. Sie zanken sich und missachten die Würde der Toten. Ich möchte, dass mit Pietät und Aufrichtigkeit in meinem Elternhaus getrauert wird. Ich brauche jemanden, der die Gefühle in die richtigen Bahnen lenkt, kurzum« – er blickte Alena noch immer an – »ich brauche dich.«
Alena gab den Blick zurück und sagte: »Ich will dir gern helfen, sofern ich es vermag. Die Frage ist nur, ob Mutter Vonnegut mich für mehrere Tage entbehren kann?«
»Natürlich kann ich das. Zwar fürchte ich, dass mir die Arbeit über dem Kopf zusammenschlägt, weil ich mich nicht gut befinde, aber du, Franz, bist in Not, und ich bin kein verzagter Hase. Alena mag mit dir gehen.«
»Danke, Mutter Vonnegut!« Franz sprang auf – die Erleichterung war ihm anzusehen – und gab der alten Frau einen hörbaren Kuss auf die Wange. »Ihr wisst gar nicht, wie dankbar ich Euch bin.«
»Schnickschnack. Lass Alena jetzt packen. Sie wird das eine oder andere brauchen. Ich sag immer: gut
embaliren
heißt gut reisen.«
Wenig später hatte Alena ihren alten, mit einem großen silbernen Kreuz bestickten Ranzen gefüllt. Darin befanden sich für den Körper: das umgearbeitete schwarze
Habit
einer Karmelitin, ein weiteres Kleid von schönem Bordeauxrot, zu dem ein lindgrünes
Chemisette
mit feiner Klöppelspitze gehörte, frische Leibwäsche sowie ein paar Toilettenartikel. Und für die Seele: eine Ausgabe der Heiligen Schrift, das Große Gesangbuch und dazu eine Psalmensammlung.
Während sie die einzelnen Dinge verstaute, hatte sie fortwährend an Abraham denken müssen, wobei es durchaus zwiespältige Gefühle gewesen waren, die ihr durch den Kopf gingen. Einerseits freute sie sich, ihren alten Beruf als Klagefrau wieder ausüben zu können – von dem damit
Weitere Kostenlose Bücher