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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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wie es ist. Du wirst die Speichen des großen Rades nicht aufhalten können.«
    »Um ehrlich zu sein, ich glaube, ja. Aber ich bin mir nicht ganz sicher. Meine Monatsblutung ist bisher erst ein Mal ausgeblieben.«
    »Und was sagt Julius dazu?«
    Auf Alenas Gesicht fiel ein Schatten. »Der weiß es noch gar nicht.«
    »Das wundert mich nicht. Das Mannsvolk gafft jedem neuen Rock hinterher, aber wenn die eigene Frau was unter der Schürze trägt, ist es blind.«
    Alena wollte etwas sagen, aber die Witwe kam ihr zuvor: »Nimm’s mir nicht bös, es war nicht auf deinen Julius gemünzt. Da fällt mir ein: Heute Mittag soll’s Weißkohl mit Rindfleisch geben, aber Kohl bläht zu sehr für das Kind, das
accordirt
nicht. Jede werdende Mutter weiß das. Statt Kohl wird eine Portion Salzkartoffeln auf den Tisch kommen. Den
Burschen
wird’s so oder so schmecken, und ich will sowieso nichts essen. Du bist doch einverstanden?«
    »Natürlich, Mutter Vonnegut, ich werde die Kartoffeln schnell schälen.«
    »Das hat noch Zeit. Geh erst nach oben und schon dich ein wenig. Ein Kind braucht viel Kraft.«
    Alena stieg die Stufen ins Obergeschoss empor, ging durchs Puppenzimmer, wo Abrahams Lieblinge wie die Hühner auf der Stange auf einem Kanapee saßen, und blieb unwillkürlich stehen. »Grüß Gott, ihr Puppen«, sagte sie, »euch geht es wie mir. Auch ihr werdet in letzter Zeit ziemlich vernachlässigt.«
    Natürlich bekam sie keine Antwort, und sie wusste auch nicht, was Abraham seinen Figuren an dieser Stelle in den Mund gelegt hätte. Sie wusste nur, dass jede einzelne Puppe für einen Abschnitt im Leben ihres Mannes stand. »He, Söldner.« Ihre Hand strich über den Harnisch des Soldaten. Er verkörperte die Zeit, in der Abraham als Infanterist gedient hatte. Der Schiffer stand für die Zeit als Matrose und der Landmann für die Zeit als Knecht. Die Magd wiederum erinnerte an eine alte Dänin, die der gute Geist im Hause Abraham in Tangermünde gewesen war, und das Burgfräulein an eine adlige Dame, die er als Knabe glühend verehrt hatte. Der bärbeißige Friedrich, der dem Burgfräulein so spinnefeind war, hatte Abrahams Wege in Potsdam gekreuzt – und ihn seinerzeit aufs höchste beeindruckt.
    Alle Puppen standen ihm auf ihre Art nahe und waren ein Teil seiner selbst. Am vertrautesten aber war ihm der Schultheiß, obwohl Abraham niemals das Amt eines Bürgermeisters ausgeübt hatte. Bald würde vielleicht ein neuer Abschnitt in seinem Leben beginnen, mit einer achten Puppe, einer kleinen achten Puppe, die wirklich lebte …
    Alena ging hinüber in das angrenzende Zimmer, das unter anderem auch als Schlafzimmer diente. Abrahams schwarzer Gehrock aus Nankinett lag auf dem Bett. Er hatte deren zwei, die er im Wechsel trug. Immer, wenn er einen aufs Bett legte, hieß das, Alena möge ihn auf Staub und Flecken untersuchen und gehörig ausbürsten. Sie nahm das gute Stück auf und begann, es mit der Kleiderbürste zu bearbeiten. Insgesamt machte der Stoff noch einen recht passablen Eindruck, auch wenn das Rückenteil hier und da schon etwas glänzte. Was war das? Alenas scharfe Augen hatten ein langes blondes Haar entdeckt, gleich darauf sah sie noch ein zweites. Ihr erster Gedanke war, dass Abraham wieder einmal seine Puppen einer intensiven Inspektion unterzogen hatte – er tat dies in regelmäßigen Abständen, wobei er es sich nicht nehmen ließ, ihnen eigenhändig die Frisuren zu richten, verblichene Kleidungsstücke auszutauschen oder auch mal einen Knopf anzunähen – und dass bei dieser Gelegenheit ein paar Haare der Magd an seinem Rock haften geblieben wären.
    Alena erhob sich und ging hinüber zu den Puppen, nahm der Magd die weißgestärkte Haube ab und verglich ihre Haare mit den beiden gefundenen Haaren. Doch sie stimmten nicht überein, das sah sie sofort. Was hatte das zu bedeuten? Woher stammten die beiden Haare dann?
    Ein Verdacht keimte in Alena auf. Ein furchtbarer Verdacht, so furchtbar, dass sie ihn zunächst nicht zu Ende denken mochte – und es dann doch tat. Abraham hatte sie belogen und betrogen! Er hatte mit Henrietta, diesem falschen Heinrich, ein Schäferstündchen gehabt, und mit Sicherheit nicht nur das! Während sie zu Hause im Bett gelegen und wie eine dumme Gans auf ihn gewartet hatte. Abraham, du Schuft! So blöd, wie du glaubst, bin ich auch wieder nicht. Ich werde dich … ich werde dich … ja, was werde ich eigentlich?
    Wie eine Tigerin lief Alena im Kreis herum und überlegte,

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