Das Lied der Klagefrau
Zofe der Verstorbenen. Die Auskünfte, die sie erhielt, waren immer gleich: Schon vor dem Tod der Hausherrin war das Myliussche Haus kein Ort der Harmonie gewesen, doch mit dem Erscheinen der beiden Schwestern hatten Zwietracht und Unfrieden erst recht um sich gegriffen. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als ihr die drei Diener der Schwestern über den Weg liefen. Es war augenscheinlich, dass sie sich etwas Besseres dünkten, denn sie gaben sich, als gehöre ihnen das gesamte Haus. Damit nicht genug, befanden sie es nicht einmal für nötig, zu grüßen. Alena schaute ihnen kopfschüttelnd nach und stand kurz darauf vor der doppelflügeligen Tür zum Kleinen Salon. Sie straffte sich und klopfte an.
Als sie keine Antwort erhielt, klopfte sie noch einmal an. Erneut keine Antwort, nur ein nicht näher zu beschreibender Klagelaut. Dann eine herrische Stimme: »Nein, zum Donnerwetter!«
Alena ließ sich nicht entmutigen. Sie drückte die schwere bronzene Klinke nieder. Die Tür schwang auf. Sie trat ein und sah einen hübschen, mit blattgrüner Seidentapete ausgeschlagenen Raum, dessen Decke mit reichen Stuckornamenten verziert war. In der Mitte stand ein offenes Bett, in dem die Tote lag. Man hatte ihr die Hände über der Brust gefaltet, leichenblasse Hände, die von einem hünenhaften Mann, der an ihrer Seite saß, gestreichelt wurden. Es war kein anderer als der Hausherr, Johann Heinrich Mylius. »Was wollt Ihr hier?«, herrschte er Alena an.
»Ich will Eure Frau heimführen zu Gott«, sagte Alena.
Mylius verzog das Gesicht. »Ich nehme an, der Pfarrer hat Euch geschickt, nachdem ich ihm die Tür gewiesen habe. Wer Ihr auch seid, ich scheue mich nicht, mit Euch das Gleiche zu machen. Verschwindet also lieber!«
Alena zitterte innerlich, aber sie blieb stehen.
Mylius erhob sich und näherte sich ihr drohend. »Niemand hat mich in meiner Trauer zu stören, erst recht nicht Gottes Sendboten. Wie konnte Gott mir das antun, mir das Liebste zu nehmen, das ich auf Erden hatte!«
»Gottes Ratschluss ist unerforschlich.«
»Geht jetzt.« In dem fleischigen Gesicht des Mannes zuckte es. Eine Träne lief ihm die Wange herab. »Geht jetzt, oder ich muss Euch eigenhändig hinauswerfen.«
»Gut, ich gehe«, sagte Alena. »Aber Ihr könnt hier nicht bis zum Tag des Jüngsten Gerichts neben Eurer toten Frau sitzen. Dadurch wird sie nicht wieder lebendig, so hart es auch klingen mag. Gott hat ihr das Leben gegeben, Gott hat ihr das Leben genommen, sein Wille ist geschehen. Holt die schönen Stunden, die Ihr mit ihr verbracht habt, in Eure Erinnerung zurück. Lacht noch einmal in Gedanken mit ihr, geht mit ihr am Ufer der Fulda spazieren, tanzt ein
Menuett
mit ihr, denkt an Euren ersten Kuss … Sprecht ein Gebet und gebt sie frei, damit sie in Gottes Acker ihre Ruhe findet. Sie ist eine getaufte Seele und hat das Recht, in gesegneter Erde zu liegen.«
»Die Stunden, die ich mit meiner Frau verbracht habe, gehen niemanden etwas an.«
»Niemanden, außer Gott.«
»Gott ist für mich tot, so tot wie meine Frau. Es gibt so viele Menschen, die es tausendmal mehr verdient hätten, am Brustfraß zu sterben – warum musste es ausgerechnet meine Frau sein! Ich hätte noch so viel an ihr gutzumachen gehabt.« Jetzt liefen seine Tränen ungehemmt. »Und nun geht!«
Alenas Augen blitzten. »So höret, hochverehrter Herr Mylius: Ich werde tatsächlich gehen. Aber ich werde auch dafür sorgen, dass Ihr Euch nicht an Eurer Frau versündigt, denn ich komme wieder. In der Zwischenzeit will ich für Euch beten.«
Zornbebend wandte sie sich ab und eilte zu ihrem Zimmer. Sie fühlte sich tief in ihrem Stolz verletzt, weil Mylius sie abgewiesen hatte. Indes: Die Trauer des Mannes schien wirklich echt. Sollte aus einem Saulus ein Paulus geworden sein? Man hörte ja häufiger, dass mancher erst angesichts des Todes zur Einsicht kam – und zur Reue. Beides mochte sich gerade in Mylius’ Herzen zutragen.
Alena legte sich auf ihr Bett und schloss die Augen. Sie war plötzlich sehr müde. Der Tag hatte ihr viel abverlangt. Heute Morgen noch hatte sie ihre wenigen Sachen genommen und war zur Witwe Vonnegut gezogen – jetzt saß sie in einem fremden Zimmer, in einem Patrizierhaus, in Kassel … verrückte Welt.
Über diesem Gedanken schlief sie ein.
Als sie erwachte, war es tiefe Nacht. Es knackte in den Wänden, irgendwo miaute eine Katze. Sie kam sich einsam und verloren vor und schalt sich wegen ihrer Schwachheit. Dann
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