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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Gottes war?
    Andererseits gab es nur einen Gott. Er war der Eine, der Große, der über alles Erhabene. Erhaben über die kleingeistigen Zänkereien der Menschen, die seinen Willen immer wieder anders auslegten. Das hatte auch Abraham gesagt und hinzugefügt, dass es genüge, die Zehn Gebote einzuhalten, denn sie galten gleichermaßen für Katholiken, Protestanten und Juden. Ach, Abraham! Könnte ich jetzt mit dir sprechen, würde ich dir sagen, dass Franz, dein alter Kommilitone, mir zehn Taler für meine Dienste versprochen hat. Das ist viel Geld. Wir können es gut brauchen, und vielleicht musst du dann fürs Erste nicht mehr in Richters Hospital gehen, kannst deine Dissertation in Ruhe zu Ende schreiben und wirst promoviert. Und bist endlich ein richtiger Doktor der Medizin …
    Alena beruhigte sich allmählich. Sie sprach zum zweiten Mal in dieser Nacht ein Gebet, in das sie Johann Heinrich Mylius und seine verstorbene Frau einschloss, und schlief bald darauf ein.
     
     
    Der Dienstagvormittag war ein Frühlingstag wie Samt und Seide. Alena stand spät auf und ging hinunter in die Küche, wo bereits emsig die Vorbereitungen für das Mittagsmahl getroffen wurden. Allerorts wurde geputzt, geschnitten und gerührt. Es sollte eine Gemüsesuppe geben, Mengen von Gartensalat sowie zwei knusprige Spanferkel mit Sauerkraut und gerösteten Kastanien. Zur Anregung der Verdauungssäfte hatte Else ein Fässchen Bier und ein Dutzend
Bouteillen
roten Muskatellers vorgesehen.
    Alena erhielt von ihr, gewissermaßen als Vorgeschmack auf das spätere Essen, einen Teller Suppe, etwas krossgebratenes Fleisch mit Kraut, dazu frisches Weißbrot und Butter. »Nun esst«, sagte die Köchin nicht unfreundlich. »Frisch dran!«
    Alena ließ es sich schmecken. Sie lobte die Suppe und bat um das Rezept. Else nannte die Zutaten und fragte: »Was habt Ihr heute vor, Schwester Alena? Wie man hört, ist der Gnädige noch immer im Kleinen Salon und lässt niemanden rein. Wilhelm hat heute Morgen versucht, ihm eine Eierspeise zu bringen, aber er hat sich an der Tür die Nase gestoßen. So kann es doch nicht weitergehen.«
    »Nein, da habt Ihr wohl recht. Danke für das Essen.«
    Alena erhob sich und ging in den Garten. Es war eine wundervolle Anlage nach französischem Vorbild, streng geometrisch gestaltet, mit prachtvollen Beeten, großen Rasenflächen und gepflegten Buchsbaumhecken. Tief atmete sie die weiche Luft ein und spürte, wie ihr unter dem schwarzen Stoff der Schwesterntracht warm wurde. Sie setzte sich auf eine Bank und beobachtete ein Heckenbraunellen-Pärchen, das eifrig zwitschernd in den unteren Ästen eines Strauchs hin und her hüpfte.
    Einige Zeit verging, dann vernahm sie Stimmen. Sie gehörten den ungehobelten Dienern von Franz’ Schwestern. Die Kerle steckten in gut geschnittenen grünen Livrees mit rot abgesetzten Kragen und verhielten sich genau so, wie Wilhelm es am Tag zuvor berichtet hatte – sie taten nichts. Ein paar Schritt entfernt setzten sie sich auf eine andere Bank, lasen Kieselsteine auf und warfen sie nach den Heckenbraunellen. Verängstigt flatterten die kleinen Vögel davon, kamen aber alsbald zurück, wahrscheinlich, weil sie ein Nest in dem Strauch hatten, und wurden abermals beworfen.
    Alena stand auf und ging zu den Kerlen hinüber. »Lasst das augenblicklich sein«, fauchte sie.
    Die drei musterten sie. Sie waren alle jung und schlank, durchaus gutaussehend, wenn nicht der überhebliche Ausdruck in ihren Gesichtern gewesen wäre. »Warum
echauffirt
Ihr Euch so, Schwester?«, fragte der, der in der Mitte saß. »Ihr habt uns gar nichts zu befehlen.«
    Offenbar fanden seine Kumpane die Worte sehr komisch, denn sie begannen laut zu lachen.
    Alena lachte nicht, ihre Augen schossen Blitze. »Ich trage das Gewand der Nonnen des Ordens vom Berge Karmel, bin also eine Vertreterin Gottes. Wenn ihr schon nicht vor einer Dame aufsteht, erhebt euch wenigstens aus Ehrfurcht vor Eurem Gott.«
    Der Mittlere blieb sitzen, die beiden anderen erhoben sich tatsächlich, wenn auch aufreizend langsam. Der Mittlere, offenbar der Wortführer, sagte spöttisch: »Heißt es nicht: ›Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein‹? Nun, wir sind ohne Sünde und werfen deshalb Steine, ob es Euch nun passt oder nicht. Kommt, Freunde, setzt euch wieder. Die fromme Schwester will sicher wieder gehen.«
    »Nein, das will ich nicht.« Alena stemmte die Arme in die Hüften, was ziemlich undamenhaft aussah, ihr aber

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