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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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in diesem Moment einerlei war. Einer Eingebung folgend, sagte sie: »Wo wir gerade von Steinen reden: Madame von Senftleben und Madame zur Haid, eure Herrschaft also, haben, wie ihr sicher wisst, die Schmuckkästen der verstorbenen Hausherrin, äh, inspiziert. Das taten sie, wie ich weiß, heute Morgen wieder. Und siehe da: Einige wertvolle Steine fehlten.«
    »Was haben wir damit zu tun?« Das Gesicht des Mittleren schützte Unwissenheit vor. Aber Alena sah genug in seinen Augen – ihr Schuss ins Blaue war ein Volltreffer gewesen. »Was ihr damit zu tun habt? Vielleicht mehr, als euch lieb ist. Im Myliusschen Haus haben die Wände Ohren und die Türen Augen, falls ihr das noch nicht wisst. Wenn euer Gewissen rein ist, habt ihr nichts zu befürchten. Derjenige aber, der die Schmuckkästen der Verstorbenen, nun, sagen wir, ebenfalls inspiziert hat, sollte es vielleicht ein zweites Mal tun – und sich davon überzeugen, dass ihr Inhalt vollständig ist. Anderenfalls …«
    Das letzte Wort ließ Alena drohend in der Luft schwingen. Sie drehte sich langsam um – niemand sollte ihr die Erregung anmerken – und entfernte sich.
    Sie ging vielleicht fünfzig Schritt und versteckte sich dann hinter einer Hecke. Augenblicke später sah sie die drei Nichtsnutze, wie sie heftig diskutierten und eilig dem Haus zustrebten. Sie grinste schadenfroh. »Jetzt seid ihr es, ihr Schurken, die sich
echauffiren.
«
     
     
    Am Nachmittag fuhr der Leichenbestatter mit einem prächtigen Gespann vor, denn er wollte für einen würdigen Abtransport von Madame Mylius sorgen. Er hatte angenommen, der Hausherr hätte seine Zwiesprache mit der Verstorbenen beendet, aber er irrte sich. Alena war es, die sich seiner annahm und die ihm auch bedeutete, dass er umsonst gekommen sei.
    »Was soll denn nun werden, Schwester?«, fragte er hilflos. »Der Takt verbietet es mir, darüber zu sprechen, aber ich tu’s trotzdem: Man kann eine Leiche nicht tagelang bei normaler Temperatur im Haus behalten, anderenfalls, äh, verändert sie sich. Ihr wisst schon, was ich meine. Der Herr Pfarrer ist auch sehr beunruhigt. Er überlegt ernsthaft, ob er nicht den
Commissionair
der Stadtwache verständigen soll, damit dem Ganzen ein Ende gesetzt wird. Allein die hohe Stellung des Hausherrn hält ihn bisher davon ab.«
    »Beruhigt Euch. Kommt morgen um dieselbe Zeit wieder. Dann wird alles seinen notwendigen Gang gehen können.«
    »Meint Ihr wirklich?«
    »Ja, mit Gottes Hilfe.«
    »Nun gut, wenn Ihr es sagt.
Adieu,
Schwester.«
    Alena war keineswegs sicher, ob es ihr gelingen würde, den Widerstand des trauernden Hausherrn zu brechen, aber sie wollte sich nichts anmerken lassen und musste Zuversicht ausstrahlen. Gegen Abend unternahm sie einen neuen Versuch, Mylius aus dem Zimmer zu locken, nachdem es tagsüber niemandem auch nur annähernd gelungen war. Sie ließ sich von Else ein schönes Stück Spanferkel aufwärmen, legte etwas Kraut und ein paar dampfende Kastanien dazu und trug alles nach oben zum Kleinen Salon. Wie vermutet, war die Tür noch immer verschlossen. Sie stellte den Teller auf den Boden, horchte eine Weile und rief, als sie nichts hörte: »Hier ist Schwester Alena. Schlaft Ihr?«
    »Geht weg!«
    Alena dachte nicht daran. »Ich habe für Euch und Eure Frau gebetet.«
    »Na und, ist sie deswegen wieder am Leben?«
    »Eure Antwort ist nicht nur gottlos, sondern auch zynisch. Glaubt Ihr, Eurer Frau hätte sie gefallen?«
    »Ich …«
    »Glaubt Ihr, Eurer Frau hätte sie gefallen?«
    »Nein, vielleicht nicht. Ich will mit Euch nicht über meine Frau reden. Ich will überhaupt mit niemandem reden.«
    »Gut, dann habt Ihr ja Zeit, etwas zu essen. Macht die Tür auf, dann bringe ich Euch etwas hinein. Es ist Spanferkel, eine Eurer Lieblingsspeisen, wie man mir sagte.«
    »Nein!«
    »Könnt Ihr noch etwas anderes sagen außer ›nein‹?«
    »Das geht Euch nichts an.«
    »Wie Ihr wollt.« Alena versuchte, gleichmütig zu klingen. »Ich lasse das Essen vor der Tür stehen. Ich will, dass Ihr es Euch irgendwann hereinholt. Es wäre ein Jammer, wenn es verdürbe. Denkt an Eure Frau. Sie würde wollen, dass Ihr esst. Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden, so steht es schon in der Schrift, Psalm zweiundzwanzig, Vers siebenundzwanzig. Amen.«
    Alena wartete die Antwort nicht ab, sondern ging hinauf in ihr Zimmer. Wieder war ein Tag vergangen. Ein Tag, der sie keinen Deut weitergebracht hatte. Das hatte sie kurz zuvor auch Franz gegenüber

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