Das Lied der Klagefrau
spürte sie Hunger, und ihr fiel ein, dass sie seit zwölf oder mehr Stunden nichts gegessen hatte. Im Schein einer Kerze stand sie auf, richtete sich die Kleider und ging mit dem Leuchter in der Hand nach unten. Leise betrat sie die Küche. Wie anders wirkte alles, jetzt, wo kein Mensch mehr den Raum belebte! Irgendwie abweisend und bedrohlich: die Herde, die Töpfe, die Pfannen und Tiegel, die Regale und Borde, die rußgeschwärzte Decke. Es roch nach Kohl und Suppe. Der lange Tisch, an dem das Gesinde sein Essen einnahm, war leer und blankgescheuert, nur zwei Äpfel lagen an seinem äußersten Ende. Alena musste an Mia denken, die kleine Tochter der Köchin. Vielleicht gehörten die Äpfel ihr.
»Es tut mir leid, kleine Mia«, flüsterte sie, »aber ich habe Hunger.« Sie nahm die Äpfel und trat den Rückweg an. Lautlos huschte sie wieder nach oben in den ersten Stock, vorbei am Kleinen Salon. Als sie ihn passiert hatte, glaubte sie etwas vernommen zu haben. Sie schlich zurück und lauschte. Richtig: Sie hörte stockende, geflüsterte Worte und Sätze. Sätze, die zweifelsfrei von Johann Heinrich Mylius stammten.
»… Oh, es ist alles so sinnlos, so sinnlos … nein, meine Liebste, ich bin noch nicht am Ende. Ich muss dir noch so vieles sagen. Erst wenn du es weißt, kannst du mir sagen, ob du mir verzeihst … ich schäme mich so. Du warst mir immer eine treue Frau, und ich … ja, ich habe bei anderen Frauen gelegen, aber du, du warst doch immer die Einzige, die ich liebte. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst, du warst immer die Einzige, die Einzige …«
Ein Schluchzen unterbrach die Worte. Dann setzten sie wieder ein: »Weißt du noch, als unser erster Sohn geboren wurde? Damals … wir hatten das Haus noch nicht, ich war ein kleiner Kaufmann, handelte mit Hölzern und Türkischem Weizen und hatte noch keine Ämter … und das Geld war knapp. Ich bekam die Mitgift von deinem Vater nicht, denn ich war ihm nicht gut genug für seine Tochter … weißt du noch? Trotzdem waren wir glücklich, so glücklich … wir sangen an der Wiege unseres kleinen Georg. Er war gerade in Sankt Jacobi getauft worden, und der Text des Liedes hieß:
»Barmherziger, lass Deiner Gnade
jetzt dieses Kind befohlen sein,
das wir im heil’gen Wasserbade
auf Deines Sohns Befehl Dir weihn …«
Weiter weiß ich nicht mehr … ist auch egal. Aber Georg ist fern, er fuhr über das große Meer, genau wie Ludwig und Philipp … wir werden sie niemals wiedersehen. Sie sind weit, so weit, wie Gott von mir ist. Verzeih mir, ich glaube nicht mehr an ihn. Ich kann es nicht, ich will es nicht … verzeih mir, du warst immer eine gläubige Christin, und ich, ich war ein Sünder. Ich schäme mich so, ich schäme mich. Hörst du mich? Ich würde alles dafür geben, dich wieder lebendig machen zu können, alles … alles Geld und Gut, sogar meine Seele, der Teufel kann sie gerne haben, und er wird sie nehmen, denn es gibt ihn, an ihn glaube ich, seitdem du tot bist. Es kann keinen Gott geben, o Gott, o Gott, warum hast du mir das nur angetan …«
Alena kämpfte mit den Tränen. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte lauthals losgeheult. So schwer die Sünden von Johann Heinrich Mylius auch wiegen mochten, er schien sie wirklich zu bereuen. Man musste ihm helfen und ihm wieder den Weg zu Gott weisen! Sachte drückte Alena die Klinke nieder und wollte den Kleinen Salon betreten. Doch diesmal war die Tür versperrt. Mylius musste sie abgeschlossen haben.
Ratlos stand sie da. Sollte sie anklopfen? Nein, besser nicht. Sie wollte sich nicht noch einmal fortschicken lassen – und sie wollte Mylius in der Zwiesprache mit seiner Frau nicht stören. Sie spürte, dass er ihr noch viel zu sagen hatte.
Auf leisen Sohlen entfernte sie sich, gelangte zu ihrer Kammer und legte sich wieder zu Bett. Während sie in einen der Äpfel biss, kreisten die Gedanken in ihrem Kopf. Sie wollte Mylius helfen, ihm und seinem gesamten Haus. Doch konnte sie so viele eigennützige Menschen wieder in Eintracht zusammenführen? Konnte sie es mit Gottes Hilfe vollbringen?
Alena legte den Rest des Apfels fort. Zweifel kamen ihr. War sie überhaupt befugt, das Wort Gottes im Mund zu führen? Sie hatte ihren Glauben aufgegeben, hatte einen Pass, der sie als evangelisch auswies. Erst hatte sie ihren Glauben verraten, dann war sie wieder in die Tracht der Karmelitinnen geschlüpft, und nun maßte sie sich an, den Menschen zu sagen, was der Wille
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