Das Lied der Klagefrau
einräumen müssen, als dieser sich nach dem Stand der Dinge erkundigte. »Wie soll es nur weitergehen?«, hatte er gefragt, und Alena hatte geantwortet: »Kommt Zeit, kommt Rat, mir wird schon etwas einfallen.«
Und genau darum bemühte sie sich jetzt. Sie aß den zweiten Apfel von Mia und starrte gegen die Decke. Johann Heinrich Mylius, dachte sie, du bist ein hartnäckiger Fall. Ich gestehe dir zu, dass deine Verzweiflung echt ist, aber sie hilft auf die Dauer niemandem. Das muss ein Ende haben. Aber wie?
Immer, wenn du mit Außenstehenden sprichst, wird dein Herz zu Stein – und immer, wenn du mit deiner Frau sprichst, wirst du weich und nachgiebig und verständnisvoll. Man müsste diese Stimmung in dir wachrufen und verstärken und dich dann von dem Notwendigen überzeugen. Aber wie?
Man müsste die Dinge aufgreifen, die dir zu Herzen gehen, die in deiner Erinnerung sind, Dinge, die du selbst gesagt hast, denn es sind diejenigen, die dich am meisten bewegen. Aber wie?
Und dann hatte Alena eine Idee.
Sie wusste nicht, ob sie durchführbar war – sie wusste nur, dass sie Franz’ Hilfe dazu benötigte.
Am anderen Morgen früh um sechs Uhr stand Alena wieder vor dem Kleinen Salon. Franz hatte ihr tatsächlich geholfen und ihr einen Holztisch in den Gang stellen lassen. Auch hatte er dafür gesorgt, dass ein schlichtes Kruzifix darauf stand. Nun blickte er sie fragend an. »Was hast du vor, Alena?«
Sie lächelte. »Du hast mir einen Altar gebaut, ich werde eine Morgenandacht halten.«
»Was? Aber es ist doch kein Mensch da!«
»Das ändert sich vielleicht noch. Es ist die Zeit der Prim, da sollte jedermann beten.«
»Ich fürchte, das wird meinen Vater da drinnen wenig scheren.«
»Das nehme ich in Kauf.«
Franz schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich seltsam. Doch ich werde bleiben, dann hast du wenigstens einen Zuhörer.«
»Tu das, aber hole dir zuvor eine Kerze, die du während der Andacht in der Hand halten kannst. Eine brennende Kerze beruhigt die Sinne und öffnet die Seele.«
Franz ging, und Alena blickte auf die verschlossene Tür zum Kleinen Salon. Der Teller mit der Speise, den sie am gestrigen Abend davor abgestellt hatte, war verschwunden. Hatte der Hausherr ihn zu sich hineingenommen? Hatte er gegessen? Kein Laut kam von drinnen. Wenn Alena nicht sicher gewesen wäre, dass der Mann noch immer am Bett seiner Frau saß, hätte sie vermutlich aufgegeben. So aber blickte sie die Tür direkt an und betete mit lauter Stimme die folgenden Verse:
»Auf, auf, den Herrn zu loben,
den Hüter in der Nacht,
bedenke, wie von oben
der Höchste dich bewacht.
Er hat, dich zu bewahren,
die Engel hergesandt
und von dir die Gefahren
der Finsternis gewandt …«
Sie hielt inne und sprach dann weiter: »Diese Worte von Johann Franck sagen uns, dass auch in Zeiten tiefster Verzweiflung die Engel des Herrn uns nahe sind, auf dass sie uns stützen und uns Kraft geben. Der Herr in seiner Güte schenkt uns Gnade und Barmherzigkeit, er verzeiht uns, auch wenn wir es nicht glauben, und er segnet uns, auch wenn wir es nicht spüren …«
Alena faltete die Hände und sah, wie Franz zurückkam. In seiner Begleitung waren Wilhelm, die Zofe und das Zimmermädchen der Verstorbenen. Alle vier trugen eine brennende Kerze in der Hand. Sie stellten sich zu Alena, die weiter gegen die Tür sprach: »Wes Herzen voller Reue ist, dem werde verziehen, und er soll geführet werden auf den Weg zur Frucht des Geistes, zu Liebe, Freude, Friede und Geduld, zu Güte, Glaube, Sanftmut und Keuschheit …«
Alena sah, wie zwei weitere Gestalten sich näherten. Erst zögernd und neugierig, dann entschlossen. Auch sie hielten Kerzen in der Hand. Es waren Else, die Köchin, und die kleine Mia.
»Jesus ist der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch ihn«, rief Alena. »Mein Vater im Himmel, des Nachts und des Tages rufe ich dich, doch wirst du mir antworten? O Herr, gib mir die Kraft, deine Stimme zu hören, spanne alle Segel meines Geistes auf, dass ich deine Verzeihung erkennen kann, dass ich erkennen kann deine Größe und Allgegenwärtigkeit …«
Weitere Menschen kamen und gesellten sich dazu. Es waren Mägde aus der Küche und andere Bedienstete – Gesichter, die Alena nicht kannte. Sie predigte weiter: »Denn Du bist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Du weidest mich auf einer grünen Aue und führest mich zum frischen Wasser. Du erquickest meine Seele, Du führest mich
Weitere Kostenlose Bücher