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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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möchte ich mich jetzt zurückziehen.«
    »Ja, geh nur, Julius. Die anderen
Burschen
werden abräumen. Amandus vorneweg. Wer am meisten isst, soll auch am meisten arbeiten.«
    Abraham stieg nach oben zu seinen Puppen und setzte sich in ihre Mitte. Sie waren ihm so vertraut wie die Finger an seinen Händen, und natürlich vertraten sie wieder die unterschiedlichsten Meinungen darüber, wie er sich Alena gegenüber verhalten sollte. Sie waren ein Spiegelbild seiner Gedanken. Doch auch diesmal setzte sich – wie so häufig in letzter Zeit – der besonnene Schultheiß durch. Er vertrat die Auffassung, dass Offenheit der einzige Weg für eine Aussöhnung sei. »Ja, du hast sicher recht«, antwortete Abraham mit seiner eigenen Stimme. »Die ganze Offenheit nützt mir aber nichts, wenn Alena nicht da ist. Sie fehlt mir so sehr. Ich werde noch einen Spaziergang machen, um auf andere Gedanken zu kommen.«
    Er verließ das Vonnegutsche Haus und steuerte ganz automatisch die Geismarstraße an, die zum Akademischen Hospital führte. Erst kurz vor dem Eingang erkannte er, wohin ihn seine Schritte geführt hatten. Da er aber einmal da war, ging er auch hinein, stieg die Treppe empor, nachdem er Hasselbrinck, den Unermüdlichen, gegrüßt hatte, und sah nach seinen drei Bergleuten. Natürlich lagen sie da, wie sie immer dagelegen hatten, und er schalt sich, weil er für einen winzigen Augenblick gehofft hatte, es möge anders sein.
    Doch bei näherem Hinsehen war tatsächlich etwas anders.
    Burck schaute ihn mit verdrehtem Kopf an.
    Erst Gottwald und nun Burck? Mit klopfendem Herzen trat Abraham näher und betrachtete den Mann. Es war nichts Auffälliges festzustellen, wenn man davon absah, dass er sehr blass wirkte.
    Behutsam rückte Abraham Burcks Kopf wieder in die normale Position, während er sich fragte, was diesmal der Grund für die Veränderung gewesen sein mochte. Wieder der Elektrophor? Eine Wirkung nach so vielen Stunden? Unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich. Warners? Der war weg, saß sicher zu Hause bei seiner Frau und hatte Besseres zu tun.
    Die schemenhafte Gestalt! Sie musste es gewesen sein. Gut und schön, aber was bezweckte sie damit? Was sollte das alles?
    Abraham trat auf den Gang hinaus, spähte nach links und rechts, sah natürlich nichts und gab dann kopfschüttelnd auf. Wahrscheinlich machte er sich zu viele Gedanken. Morgen würde er die Versuche mit dem Elektrophor wiederaufnehmen, dann würde man weitersehen. Vielleicht kam auch Professor Richter morgen vorbei. Das Vernünftigste wäre, die Dissertation weiterzuschreiben. Zum Glück war es nicht mehr viel, was niedergelegt werden musste.
    Gesagt, getan. Abraham schloss seinen Sonderparagrafen über die einzusetzenden Entkrampfungsmittel vor Augenoperationen ab und wandte sich dem letzten Paragrafen zu, für den er schon einen groben Entwurf angefertigt hatte. Es ging um den Vergleich zwischen dem menschlichen und dem tierischen Auge, wobei er die Okulare der Säuger und der Insekten schon entsprechend behandelt hatte. Nun wandte er sich den Vögeln und Fischen zu. Unter seinen siebenundfünfzigsten und letzten Paragrafen schrieb er:
    Dass für Vögel und Fische dieselbe Notwendigkeit besteht, jede Entfernung deutlich zu sehen, wie für den Menschen, wird niemand leugnen. Die Augen der Vögel sind jedoch umgürtet von einem Ring aus Knorpel oder Knochen, wo Hornhaut und Sclerotica sich verbinden …
    Die Übersetzung begann er wie folgt:
    Esse et auibus et piscibus eandem, ad omnem distantiam distincte videndi necessitatem, quae homini est, nemo facile inficias iuerit …
    Spät in der Nacht war er fertig, doch fiel es ihm schwer, zu glauben, dass er das Werk nach so langer Zeit wirklich abgeschlossen hatte. Alena würde Augen machen, wenn er ihr davon erzählte. Alena … Der Kopf sank ihm nach vorn, voll von wirren Träumen. Alena kam darin vor, aber auch Henrietta, sie standen beide auf einer Wiese, zusammen mit Mutter Vonnegut, jede von ihnen hatte einen Elektrophor in der Hand, an dem sie wie wild mit roten Fuchsschwänzen rieben, schneller, immer schneller, und plötzlich verwandelten sich Alena, Henrietta und Mutter Vonnegut und wurden zu Pentzlin, Burck und Gottwald. Alle drei zuckten mit Armen und Beinen, als tanzten sie ein Menuett in abgehackter Zeitfolge, sie tanzten und tanzten, und dann fielen sie plötzlich wie vom Blitz getroffen um. Es gab einen dumpfen Laut …
    Abraham wachte auf und spürte einen Schmerz. Sein Kopf war auf

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