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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Straßenlaterne auf und die Marie-Antoinette gleich mit. Nun ja, es ist eben überall etwas Wermut bei dem Zucker. Komm, Julius, nimm dir noch von den Kartoffeln, und du, Amandus, hast schon vier von den eingelegten Heringen verschlungen, muss es unbedingt noch ein fünfter sein? Siehst ja bald selbst wie einer aus!«
    Wie immer führte die Witwe beim Essen ein strenges Regiment, was nichts anderes hieß, als dass die Unterhaltung im Wesentlichen von ihr bestritten wurde. »Der liebe Herrgott soll mich Lügen strafen, aber in Göttingen gibt es mehr Nörgler und Meckerer als Blätter am Baum. Kroppzeug und Gesindel ist das, sag ich euch. Empfindet es als Zumutung, dass es zu bestimmten Zeiten vor seiner Tür kehren muss, dass es keinen Mist und Unrat auf die Straße werfen darf, dass es seine Hunde nicht frei herumlaufen lassen soll und dass es verboten ist, nach dem Schlachten Blut auf die Straße zu kippen. Hannes, du sollst essen und nicht schmatzen. Dass es dir schmeckt, glaub ich auch so. Und dann die Feuerschutzgeräte! Alle naslang muss wieder ein Löscheimer aus Leder angeschafft werden, wenn man die Gnade hat, ein Bürger dieser Stadt sein zu dürfen. Wenn das so weitergeht, kann man sich gleich den Bettelstab dazukaufen.«
    »Warum zieht Ihr nicht einfach fort, Mutter Vonnegut, wenn es so schrecklich in Göttingen ist?«, fragte Amandus mit vollem Mund.
    »Und was würde dann aus euch, ihr
Burschen?
Einer muss doch da sein, damit ihr nicht über die Stränge schlagt. Ansonsten stört mich nichts in meinem Frohsinn, auch wenn ich wenig darüber lachen kann, dass irgendwelche Spaßvögel in den Löwenbrunnen am Rathaus eine tote Ziege geworfen haben und irgendwelche
Burschen
es für notwendig fanden, vor dem Anatomischen Theater am Wehnder Tor einen hölzernen Schandesel aufzustellen. Das sind Eulenspiegeleien. Was soll das alles? Die Zeiten ändern sich, ich sag’s euch.«
    Keiner am Tisch ging darauf ein, womit die Witwe auch nicht gerechnet hatte, denn sie setzte ihre Rede ohne Pause fort: »Mein Sohn in Frankfurt schreibt, dass der Sechzehnte Ludwig Generalstände aus Adligen, Geistlichen und Bürgern eingerichtet hätt, damit die über neue Steuern entscheiden. Ja, da frag ich euch: Was will der Ludwig denn noch auf dem Thron, wenn er nichts mehr allein entscheiden darf! Ich hab’s schon gesagt, der baumelt bald am Ast, und das Unterste kehrt sich zuoberst. Demnächst werden noch die Bienen hinter dem Honigtopf hersummen, die Pferde den Reiter besteigen und die Frauen an der Georgia Augusta studieren wollen.« Die Witwe sah Abraham an.
    Abraham blickte beschwörend zurück.
    »Aber lassen wir das. Alles hat seine Zeit. Mein Sohn schreibt, ein gewisser Rousseau will, dass alle Bürger sich zu einem gemeinsamen Ich zusammenschließen – der liebe Herrgott mag wissen, wie so was aussieht – und dass dieses Ich einen gemeinsamen Willen haben soll und der gemeinsame Wille das Wohl des Staates zum Ziel hätt und dass der Staat wiederum die Freiheit von jedermann garantiert. So oder so ähnlich soll er’s gesagt haben. Da sag ich nur, das ist gegen die göttliche Ordnung. Jeder hat seinen Stand und seine Verantwortung. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass so was passiert. Das ist Lamentiererei, das können die in Frankreich machen, aber nicht bei uns. Ich hab meinem Sohn geschrieben …«
    Die Witwe redete weiter, und Abrahams Gedanken glitten ab. Er aß die letzten Bissen und musste daran denken, dass die Witwe stets im Keller an ihren Sohn schrieb, wobei der Duft von faulen Äpfeln sie beflügelte. Jeder hatte eben seine eigene Marotte. Wenn er an die Äpfel im Keller dachte, fiel ihm der letzte Liebesakt mit Alena ein. Die Male, die sie beieinanderlagen, waren in letzter Zeit nicht allzu häufig gewesen. Er war meistens vom angestrengten Pauken zu erschöpft, und Alena war es nach der stundenlangen Hausarbeit bei Mutter Vonnegut ähnlich ergangen. Wegen ihrer vielen Aufgaben hatte sie in der Nachbarschaft nur wenige Male als Klagefrau arbeiten können, um auf diese Weise etwas zur gemeinsamen Kasse beizusteuern, und unter dem Strich war es nicht viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen. Das Geld, das Geld, das leidige Geld. Ob Alena für ihre Bemühungen bei Franz Mylius etwas bekam? Wann sie wohl aus Kassel zurückkehrte? Alena, du fehlst mir! Und es wird höchste Zeit, dass wir miteinander reden …
    »Ich bin satt, Mutter Vonnegut«, sagte er. »Wenn es recht ist,

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