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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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beabsichtigt.
    »Ich habe schon drübergesessen. Ich bin fertig mit meinem Tagewerk. Und ich habe etwas für dich.« Heinrich errötete noch stärker. »Hier.«
    Rasch griff er sich in den offenen Kragen und holte ein kleines Medaillon an einer Kette hervor. Es war das Medaillon, das Abraham an jenem bewussten Abend an ihm – oder besser: an ihr – gesehen hatte. »Das wollte ich dir geben. Es zeigt … mich.«
    Abrahams erster Impuls war Ablehnung, was sicher auch seiner Mimik zu entnehmen war, denn Heinrich fuhr hastig fort: »Es zeigt, wie ich wirklich aussehe. Ich dachte, du hättest dann etwas Bleibendes von mir, wo wir doch nur noch Freunde sein dürfen.«
    »Das kann ich nicht annehmen.«
    »Doch, bitte.« Schnell beugte Heinrich sich zu Abraham hinab und küsste ihn. Es war ein gestohlener Kuss, und dennoch verfehlte er seine Wirkung nicht. Wieder nahm Abraham den berauschenden Duft von Heinrichs – Henriettas – Parfum wahr. »Bitte«, sagte er, »bitte, ich …«, und wurde durch ein Räuspern unterbrochen. Es kam von der Tür, in der Hasselbrinck stand. »Verzeihung, Herr Doktor, es war angelehnt, da dachte ich, ich könnt auch ohne Anklopfen reinkommen.«
    Abraham versuchte, Haltung zu bewahren, was ihm im Sitzen nicht ganz leicht fiel. »Schon gut, äh, Heinrich von Zettritz, den jungen Medizinstudenten, kennt Ihr ja bereits. Er hat mich gestern bei meinen Untersuchungen mit dem Elektrophor unterstützt.« Abraham fragte sich, wie viel Hasselbrinck von dem Kuss mitbekommen hatte, ob er überhaupt etwas mitbekommen hatte, und fuhr fort: »Ich wollte von Zettritz gerade bitten, mir einige Informationen zu besorgen, die ich, äh, zum Führen der Journale benötige.«
    »Jawoll, Herr Doktor. Ich wollt nur sagen, unten ist ein Arbeiter von der Sägemühle vor der Stadt. Der blutet ziemlich. Hat den kleinen Finger ab.« Während Hasselbrinck das sagte, sah er eigentlich aus wie immer, vielleicht hatte er doch nichts bemerkt.
    »Danke, ich komme.« Erleichtert stand Abraham auf. »Von Zettritz, wenn Ihr wollt, könnt Ihr mir assistieren. Mit der Praxis fängt man nie zu früh an.«
    Sie eilten die Treppe hinab und verarzteten in der nächsten Stunde den Verletzten. Der Mann hatte große Schmerzen, weshalb Abraham ihm ein Viertel Lot
Laudanum
verabreichte, bevor er die Wunde versorgte und anschließend nähte. Dann legte er einen Verband an und befahl dem Mann, den Arm für die nächsten Tage in der Schlinge zu tragen. Normalerweise hätte er im Hospital bleiben müssen, aber da er das rundheraus ablehnte und mehrfach versicherte, er müsse arbeiten, seine Familie sei groß und brauche zu essen, gab Abraham schließlich nach. Jedoch nicht, ohne den Mann nachdrücklich ermahnt zu haben, täglich im Hospital zu erscheinen und den Heilungsprozess überprüfen zu lassen. Er schloss: »Ich nehme an, du hast kein Geld dabei. Dennoch kommst du mir ohne Bezahlung nicht davon. Bring morgen oder übermorgen ein Huhn vorbei und gib es Hasselbrinck, das mag genügen.«
    Als der Mann fort war, sah Heinrich ihn an. »Du bist wirklich ein großartiger Arzt.«
    »Nur weil ich auf Bezahlung bestanden habe?«
    »Du weißt genau, warum. Ich … ich bewundere dich.«
    »Sag so etwas nicht.«
    »Kommst du mit zum
Schnaps-Conradi?
Vielleicht ist Professor Lichtenberg da.«
    »Nein.«
    Heinrich machte ein enttäuschtes Gesicht. »Wir können auch woanders hingehen.«
    »Nein, ich will gleich in die Güldenstraße. Ich habe dir ja erzählt, dass Alena nach Kassel musste. Vielleicht ist sie inzwischen zurück.«
    »Ist sie nicht.«
    »Woher willst du das wissen?«
    Heinrich lächelte. »Bevor ich hierherkam, war ich bei der Witwe Vonnegut und habe nach dir gefragt. Alena war zu dem Zeitpunkt noch nicht da. Gehen wir nun zum
Schnaps-Conradi?
«
    »Nein. Vielleicht ein andermal.« Abraham wollte nicht unhöflich sein. »Wenn ich es mir mit der Witwe nicht endgültig verscherzen will, muss ich mich zu den Mahlzeiten sehen lassen.«
    »Nun ja, das verstehe ich. Dann will ich mal gehen.«
    Es war Heinrichs Gesichtsausdruck anzusehen, dass er das keineswegs verstand, doch er machte keine weiteren Versuche mehr, Abraham umzustimmen. »Auf bald, Julius.«
    »Auf bald, Heinrich.«
     
     
    »Ich sag euch, ihr
Burschen,
Fankfurt ist schöner als Göttingen! Wenn’s nur nicht so nah bei Frankreich wär. In Paris brodelt es wie imWäschekessel! Wenn das so weitergeht, knüpft das Volk bald seinen Sechzehnten Ludwig an der

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