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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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der Tischplatte aufgeschlagen. Er brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass er nur geträumt hatte, stellte fest, dass es schon drei Uhr am Morgen war, und beschloss, auch den Rest der Nacht im Hospiz zu verbringen.
    Er breitete sein Lager auf den Dielen aus und hoffte auf bessere Träume.
     
     
    Am anderen Tag ging Abraham nach kurzer Morgentoilette hinunter, um Hasselbrinck zu begrüßen und ihn zu fragen, was es Neues gäbe. Er fand ihn vor dem Haus, wo er die Fassade neu tünchte. »Das muss jedes Jahr im April gemacht werden, Herr Doktor. Ist also höchste Zeit. Aber ich komm ja zu nichts, bei all der Arbeit. Der Herr Professor hat gesagt, bemooste Wände wären nicht gesund.«
    »Natürlich.« Abraham ging wieder hinein und stolperte dabei über ein gackernd davonlaufendes Huhn. »Donner und Doria, was ist das?«
    »Das ist das Huhn, das ich mitbringen sollt, Herr Doktor.« Der Arbeiter aus der Sägemühle saß im Vorraum auf der Kleidertruhe und grinste ihn an. »Es will wohl nicht in’n Topf.«
    »Ja, so scheint’s.« Abraham steckte den Kopf wieder zur Tür hinaus. »Hasselbrinck, tut mir den Gefallen und fangt das Vieh ein. Ich will seine, äh, Hinterlassenschaften nicht auf dem Gang haben.«
    »Ist es schon wieder ausgebüxt? Ich hab’s doch auf dem Hof in den Verschlag gesperrt. Na, ich will mal sehen, wo die Frau ist, die soll sich drum kümmern.«
    »Tut das.«
    »Jawoll, Herr Doktor.«
    Hasselbrinck verschwand, und Abraham besah sich die Verletzung, nachdem er den Verband entfernt hatte. »Hast du Schmerzen?«
    »Ja, Herr Doktor, aber ’s ist auszuhalten. Wenn man arbeitet, merkt man’s nicht so.«
    »Es wäre besser, du würdest nicht arbeiten.«
    »Hilft nix, Herr Doktor, und mit einer Hand geht’s. Ich reich nur Hölzer an.«
    »Soso. Jedenfalls gebe ich dir etwas Weidenrinde mit. Daraus soll deine Frau dir regelmäßig einen starken Tee aufgießen. Die Wunde sieht recht gut aus. Noch rot, natürlich, auch ein Serom hat sich gebildet, aber das geht sicher bald zurück.«
    Abraham bestreute die genähte Stelle mit Wundpuder und legte einen neuen Verband an. Da der Arbeiter, sein Name war Traugott Moring, ihn fragend anblickte, erklärte er: »Ein Serom ist eine Ansammlung von Wundsekret, nichts Schlimmes. So, und nun geh zu Hasselbrinck, der hoffentlich das Huhn wieder unter Kontrolle hat, und lass dir die Weidenrinde geben.«
    »Ist gut, Herr Doktor.«
    Im weiteren Verlauf des Vormittags passierte nicht viel. Ein paar leichte Fälle waren zu behandeln, nichts Ernstes, ein eingerissenes Ohr, das von einer Jungenrangelei herrührte, der verbrühte Unterarm einer Magd aus der Nachbarschaft und ein Mann mit nicht genau zu ortenden Zahnschmerzen, dem er ein paar Nelken gab, damit er auf diesen kaue und den Schmerz betäube.
    Ansonsten hatte Abraham Gelegenheit, seine drei Patienten einmal mehr zu untersuchen. Er holte den Elektrophor aus seiner Stube, wo er ihn sorgsam unter Verschluss hielt, und versuchte, durch verschiedene Arten der Reibung und Bedienung zu neuen Erfolgen zu kommen. Doch wenn man davon absah, dass alle drei Kranken, also diesmal auch Gottwald, auf die durch positive und negative elektrische Ladungen entstandenen Spannungsströme mit zuckenden Bewegungen der Arme reagierten, konnte er keine Fortschritte verbuchen.
    Enttäuscht brach er kurz vor zwölf Uhr seine Versuche ab, protokollierte sie wie üblich für alle drei Journale und teilte Hasselbrinck mit, er werde zum Mittagessen in die Güldenstraße gehen.
    »Jawoll, Herr Doktor.«
    Abraham hoffte inständig, Alena würde zurück sein.

[home]
    Von dannen Er kommen wird,
zu …
    A lena saß allein in der vornehmen
Chaise,
die durch die Wehnder Straße fuhr. Es war Nachmittag, die Straßen belebten sich allmählich wieder, nachdem in den Bürgerhäusern und Handwerksbetrieben das Mittagsmahl eingenommen worden war. Häuser, Gebäude und Kirchen zogen am Wagenfenster vorbei. Fußgänger passierten die Straße, Reiter kamen hoch zu Ross daher. Der Wochenmarkt bei Sankt Jacobi mit seinen zahlreichen Ständen war gut besucht, überall standen Frauen und Mägde herum, plauderten, lachten und blinzelten in die Sonnenstrahlen, die vor kurzem durch eine dichte Wolkendecke hindurchgebrochen waren. Ja, Göttingen war eine pulsierende Stadt. Es war gut, wieder hier zu sein nach den düsteren Stunden im Haus des Johann Heinrich Mylius.
    Einzig Franz war die Erleichterung deutlich anzusehen gewesen, nachdem der Hausherr seinen

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