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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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hatte Wichtigeres zu erledigen. In ihrer Hand war immer noch der Zettel mit der Adresse von Paul. Ob sie Jimmy dort auch finden würde? Beim Gedanken an ihren Sohn, den sie seit fast sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte, wurde es Susan warm ums Herz.
     
    Die Fashion Street, die Paul Hexton als Adresse bei der Bank angegeben hatte, lag im Stadtteil Smithfield, unweit des Platzes, auf dem im sechzehnten Jahrhundert unter Queen Mary Tudor viele protestantische Märtyrer auf dem Scheiterhaufen ihr Leben lassen mussten. Heute lebten hier einfache Kaufleute und Beamte in schlichten, aus roten Ziegeln erbauten, zweistöckigen Reihenhäusern, die sich wie ein Ei dem anderen glichen. Das Haus mit der Nummer 12 hatte eine gelbgestrichene Eingangstür – der einzige Unterschied zu seinen Nachbarn. Susans Herz schlug schnell und hart, als sie den Türklopfer betätigte. Während ihres Fußmarsches von der City nach Smithfield – sie hatte bewusst auf Bus oder U-Bahn verzichtet, um Zeit zu gewinnen und ihre Gedanken zu ordnen – hatte sie sich verschiedene Versionen zurechtgelegt, was sie Paul sagen wollte, doch jetzt war ihre Kehle trocken, und ihre Zunge schien wie ein dicker Klumpen an ihrem Gaumen zu kleben.
    Susan hörte Schritte, dann wurde die Tür geöffnet. Ihr Herz machte einen Sprung. Auch wenn Jahre vergangen waren – sie hätte Jimmy immer und überall wiedererkannt. Groß war er geworden, natürlich, und sein Körper zeigte bereits die Ansätze von Stämmigkeit, die auch Paul zu eigen war.
    »Sie wünschen?« Von unten herauf blickte Jimmy die fremde Frau misstrauisch an. »Wir kaufen nichts, und Betteln ist hier verboten.«
    Susan musste alle Kraft aufbringen, sich nicht einfach auf die Knie fallen zu lassen und Jimmy in die Arme zu schließen. Es überraschte sie nicht, dass der Junge sie nicht erkannte. Sechs Jahre waren eine lange Zeit, eine viel zu lange Zeit …
    »Ist dein Vater zu Hause?« Susans Stimme klang gepresst und in ihren Ohren unnatürlich hoch.
    »Nein, aber meine Mutter.«
    Unmerklich zuckte Susan zusammen. Natürlich, da gab es ja noch diese unmögliche Person, mit der Paul zusammenlebte. Und Jimmy nannte sie Mutter … Sie schluckte den Kloß, der sich in ihrem Hals bildete, hinunter und bemühte sich um ein freundliches Lächeln.
    »Dann komme ich wohl besser wieder, wenn dein Vater da ist.« Sie wollte der Frau lieber nicht begegnen, denn diese würde sie sicher sofort wiedererkennen. Das, was sie zu regeln hatte, war eine Sache, die nur Paul und sie anging. »Wie geht es dir? Solltest du nicht in der Schule sein?« Diese Frage konnte sich Susan nicht verkneifen.
    Verunsichert runzelte Jimmy die Stirn und sah dabei Paul sehr ähnlich.
    »Danke, gut«, antwortete er höflich. »Ich muss nicht in die Schule gehen, alles, was ich wissen muss, bringt mir mein Vater bei.«
    Ja, wie man einbricht und Leute bestiehlt, dachte Susan grimmig. Genau so hatte sie sich Jimmys Erziehung durch Paul vorgestellt.
    »Wer ist es, mein Schatz?« Eine weibliche Stimme erklang im Hintergrund, und eine junge Frau, kaum älter als zwanzig Jahre, erschien in dem schmalen Flur. Sie musterte Susan kurz, aber nicht unfreundlich, und sagte: »Kann ich Ihnen helfen, Miss?«
    Susan atmete erleichtert auf. Wer immer die Frau war, sie war nicht diese unmögliche Rose oder wie immer die frühere Geliebte Pauls hieß. Nicht nur, dass die Frau wesentlich jünger und attraktiver war, sie hatte auch freundliche Augen und war zwar schlicht, aber sauber und ordentlich gekleidet.
    »Ich möchte Paul sprechen«, sagte Susan. »Paul Hexton, er lebt doch hier, oder?«
    Die Frau nickte und trat einen Schritt zur Seite.
    »Mein Mann ist derzeit nicht zu Hause, aber kommen Sie doch bitte herein. Er müsste in der nächsten Stunde kommen.«
    Mein Mann … In Susans Ohren hallten die Worte wider. Paul schien seine Frauen schneller als seine Unterhemden zu wechseln.
    »Seit wann sind Sie denn verheiratet?« Ehe sie nachdenken konnte, war Susan diese Frage entschlüpft. Sie wusste, wie ungehörig dies war, doch die junge Frau schien sich nichts dabei zu denken. Ein Leuchten ging über ihr schmales Gesicht.
    »Erst seit fünf Wochen. Kurz bevor wir hier eingezogen sind.«
    Dann wird es dich sicher freuen, zu hören, dass eure Ehe ungültig ist, dachte Susan mit einem leichten Anflug von Schadenfreude. Paul hatte also geheiratet, als er glauben musste, sie – Susan – wäre beim Untergang der Titanic ums Leben gekommen und er

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