Das Lied der Maori
sie konnte ihr Gepäck also schnell daran festbinden. Das alles sah gut aus! Jetzt nur noch nach draußen und auf den Weg zum Fluss, dann konnte sie die Schafschuppen weiträumig umgehen. Und in einer halben Stunde würde sie aus Thomas’ Einflussbereich entkommen sein! Nur schade, dass sie nicht wusste, wohin Emere sich zu ihrer Geisterbeschwörung zurückgezogen hatte. Sie misstraute der alten Maori. Emere schien die Sideblossoms einerseits zu hassen; andererseits diente sie ihnen seit Jahren und anscheinend loyal. Es musste auch einen Grund haben, warum sie John Sideblossom immer wieder erlaubte, ihr beizuliegen, statt irgendwann die Flucht zu ergreifen. Liebte sie ihn, oder hatte sie ihn einmal geliebt? Elaine wollte nicht darüber nachdenken. Aber sie hätte sich sicherer gefühlt, wäre die alte Maori weit weg gewesen. Es war besser, wenn niemand sie sah ...
Aber dann hörte sie die Flöte. Emere spielte, wieder in dieser verwirrend hohl klingenden Tonlage, mit der sie die Geister beschwor. Böse Geister anscheinend; in Thomas zumindest schienen sie Wut zu entfachen. Aber das war jetzt egal. Elaine atmete auf, als sie die Flöte hörte. Die Musik kam irgendwo aus den hinteren Höfen, und solange Emere spielte, war es leicht, ihr aus dem Weg zu gehen.
Elaine führte ihre Stute in die Stallgasse – und blieb entsetzt stehen, als sie Thomas im Eingang sah. Sein Schatten erhob sich drohend gegen das Sonnenlicht draußen, und er rieb sich die Stirn – wie so oft, wenn er Emeres Flöte hörte. Aber heute brauchte er bestimmt keine Geisterbeschwörungen, um in Raserei zu geraten.
»Nanu? Wieder ein Ausritt? Wusste ich doch, dass es sich lohnt, bei meiner süßen Frau vorbeizuschauen! Bei all den Schafscherern auf dem Hof lässt man so ein lüsternes Ding doch nicht unbewacht ...« Thomas grinste sardonisch, aber seine Hand wanderte wie gezwungen an sein Ohr, als wollte er das Flötenspiel dämpfen.
Elaine straffte sich. Sie musste jetzt Mut fassen, es gab kein Zurück.
»Ich interessiere mich nicht für deine Schafscherer«, sagte sie ruhig und führte ihre Hand langsam in Richtung der Tasche, in der sie den Revolver aufbewahrte. Emeres Spiel wurde schneller, Elaine fühlte das heftige Pochen ihres Herzens. »Und ich mache auch keinen Ausritt. Ich verlasse dich, Thomas. Ich habe keine Lust mehr auf deine Eifersucht und deine seltsamen ... Spielchen. Und jetzt lass mich raus!«
Sie machte Anstalten, ihr Pferd an ihm vorbeizuführen, aber Thomas stellte sich breitbeinig vor den Ausgang.
»Sieh an, das Hündchen knurrt!«, rief er lachend.
Callie begann wie auf Kommando wild zu bellen. Sie übertönte Emeres Flötenspiel mühelos, was Thomas zu erleichtern schien. Er machte einen Schritt auf Elaine zu.
Elaine zog ihre Waffe.
»Ich mache keine Scherze!«, sagte sie mit zitternder Stimme, aber sie würde nicht nachgeben. Sie durfte nicht! Es war nicht auszudenken, was er mit ihr anstellen würde, wenn sie sich jetzt zurückhalten ließ.
Thomas lachte schallend. »Oh, ein neues Spielzeug!«
Er zeigte auf den Revolver. Callie bellte noch lauter, und im Hintergrund vibrierten die Töne, die Emere der Flöte entlockte.
Dann ging alles blitzschnell. Die verängstigte Elaine entsicherte die Waffe, als Thomas sich auch schon auf sie stürzte. Aber sein Versuch, sie zu überrumpeln, kam zu spät. Elaine betätigte den Abzug, unsicher, mit einer Hand. Sie wusste nicht, ob sie getroffen hatte, doch Thomas verharrte mit beinahe ungläubiger Miene – und dann schloss sie die zweite Hand um die Waffe und richtete sie eiskalt und voller Konzentration auf ihren Mann. Sie wollte seine Brust treffen, doch der Revolver schien ein Eigenleben zu entwickeln, als sie abdrückte. Der Rückstoß ließ die Mündung hochschnellen. Und dann sah sie Blut aufspritzen. Thomas’ Gesicht explodierte vor ihr in einer Fontäne von Blut ... Er schrie nicht einmal. Er fiel zu Boden wie vom Blitz getroffen.
»Verdammt sollst du sein!« Thomas hörte Emeres Stimme. Er wusste, er hätte dem Gesang der Geister nicht folgen dürfen. Hatte sie ihm nicht immer gesagt, dass er nur in seinem Kinderzimmer sicher wäre, wenn sie die Geister rief? Aber er war neugierig ... und er war jetzt acht Jahre alt; da musste ein Junge den Mut aufbringen, sich einer Bedrohung entgegenzustellen. Das jedenfalls hatte sein Vater gesagt. Und so war er Emere in dieser Nacht gefolgt, als sie ihn schlafend wähnte, eingeschläfert vom tiefen, hypnotischen Klang der
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