Das Lied der Maori
Flöte. Doch Emere traf sich nicht mit irgendwelchen Geistern. Es war sein Vater, der zu ihr trat ... im sommerlichen Garten, während sie seltsam schwankend wirkte, so als wüsste sie nicht, ob sie bleiben oder davonlaufen sollte. Und dann seine Stimme ...
»Habe ich dich nicht gerufen?«
Emere wandte sich zu ihm um.
»Ich komme, wenn ich es will.«
»Ach? Du willst also Spielchen spielen ...«
Was Thomas dann sah, sollte sich für ewig in sein Gedächtnis einbrennen. Es war abstoßend, aber es war auch ... erregend. Es war fast so, als ließe ihn die heimliche Beobachtung an der Macht des Vaters teilhaben. Und was für eine Macht das war! John Sideblossom bekam alles, wonach Thomas sich so brennend sehnte. Emere umarmte ihn, küsste ihn ... Aber sie musste dazu gezwungen werden ... unterworfen. Thomas sehnte sich danach, die Kraft seines Vaters zu besitzen und Emere ebenfalls zwingen zu können ... Schließlich ließ sein Vater sie liegen. Sie wimmerte. Sie war bestraft worden ...
... und dann klang die Flöte. Die Geisterstimme. Thomas hätte eigentlich fliehen müssen. Emere hätte nie erfahren, dass er ihre Demütigung gesehen hatte. Aber er blieb, trat sogar näher. Er hätte zu gern ...
Und dann wandte sie sich zu ihm um.
»Du hast alles gesehen? Und du schämst dich nicht? Du hast es jetzt schon in den Augen, Thomas Sideblossom ... Verdammt sollst du sein!«
Thomas’ Gesicht explodierte.
Elaine sah aus einem Augenwinkel, wie sich eine rote Lache um Thomas’ Kopf ausbreitete. Sie wagte nicht, sich zu rühren, obwohl sie keine Furcht mehr spürte, sondern nur noch Kälte und Entsetzen. Callie wimmerte und versteckte sich in einer Box. Sie fürchtete sich vor lauten Geräuschen. Emeres Flöte sang unablässig in auf- und abschwellenden, hohlen Tönen ...
»Er ist tot ... er ist tot ...« Die Gedanken überschlugen sich in Elaines Hirn; sie schwankte zwischen dem morbiden Wunsch, zu Thomas zu gehen und sich zu vergewissern, und dem Verlangen, davonzurennen und sich in einem Winkel ihres Zimmers zu verstecken.
Dann aber wurde ihr klar, dass sie nichts dergleichen tun würde. Sie würde genau das machen, was sie geplant hatte: ihr Pferd nehmen und verschwinden.
Elaine sah den am Boden liegenden Mann nicht an – auch nicht, als sie Banshee über ihn hinwegführen musste. Ihr graute vor seinem zerstörten Gesicht, und sie hatte genug schreckliche Erinnerungen an Thomas Sideblossom, dass es für ihr ganzes Leben reichte. Banshee schnaubte, stieg dann aber über den Körper hinweg, als wäre es ein Baumstamm im Wäldchen. Elaine dankte dem Himmel, dass sie nicht auf ihn trat, das wäre denn doch zu viel gewesen. Es reichte schon, dass Callie interessiert an ihm schnupperte. Sie musste die Hündin scharf rügen, damit sie nicht an seinem Blut leckte. So erreichten sie ungesehen den Hof. Dabei musste zumindest Emere den Schuss gehört haben! Sie konnte nicht so tief in ihr Flötenspiel versunken gewesen sein. Elaine selbst würde den Knall der Waffe ewig im Ohr haben.
Emere tauchte nicht auf, obwohl die Flöte verstummt war, als Elaine den Stall verließ. War das Zufall? Oder holte die alte Maori Hilfe? Elaine war es egal; sie wollte nur noch weg. Sie schwang sich auf Banshee und galoppierte fast aus dem Stand heraus an. Die Stute wollte auf direktem Weg in Richtung Wanaka, und eigentlich brauchte Elaine den Scherschuppen jetzt ja auch nicht mehr zu meiden.
Dann aber stieß die Erkenntnis wie ein Messer in ihr Bewusstsein: Sie hatte ihren Mann erschossen. Sie hatte eine Pistole auf einen unbewaffneten Menschen gerichtet und eiskalt abgedrückt. Da konnte man nicht einmal auf Notwehr plädieren. Es war nicht mehr möglich, einfach zu ihren Eltern zu verschwinden und dort unterzukriechen. Sie war jetzt eine Mörderin auf der Flucht. Spätestens am kommenden Morgen würde John Sideblossom Anzeige erstatten, und dann wäre der Constabler hinter ihr her. Auf keinen Fall konnte sie je wieder nach Queenstown reiten, ebenso wenig in die Canterbury Plains. Sie musste ihre Familie und ihre Freunde vergessen, ihren Namen ändern und irgendwo ein neues Leben anfangen. Wie und wo war ihr schleierhaft, aber Flucht war ihre einzige Chance.
Elaine lenkte die Schritte ihrer eher unwilligen Stute in Richtung der McKenzie Highlands.
FLUCHT
Canterbury Plains, Greymouth Westküste
1896
1
»Mein Gott, William, natürlich könnten wir sie zurückholen!« Gwyneiras Stimme klang mehr als ungeduldig, führte sie
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