Das Lied der Maori
er besser konnte als alle anderen.
Kura hatte immer schon geahnt, dass sie besser singen konnte als alle anderen. Nun wuchs ihre Überzeugung, eine begnadete Sängerin zu sein, mit jedem Tag.
Obwohl Roderick ihre Gesangsstunden inzwischen eingestellt hatte – trotz all ihrer Bemühungen und Gegenleistungen hatte er irgendwann die Lust verloren und nahm sie jetzt lieber mit auf Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten der Orte, an denen sie gastierten –, überflügelte sie die anderen Sänger mühelos. Dank der verbesserten Stimmführung schaffte sie mehr Höhen und Tiefen. Ihre Stimme umfasste jetzt fast drei Oktaven. Sie hielt die Töne länger und brauchte sich nie damit zu helfen, dass sie lauter sang, als in der Partitur angegeben. Selbst im schwächsten Stück der Aufführung, dem Troubadour-Quartett, bei dem sich die anderen Sänger durchweg gegenseitig niederschrien, ging ihre Azucena nicht unter. Kuras starke Stimme setzte sich auch in normaler Lautstärke durch, und sie wirkte dabei nicht angestrengt, sondern fand sogar Zeit, ihre Rollen schauspielerisch auszufüllen. Das Publikum bereitete ihr jeden Abend stehende Ovationen, und sie fühlte sich immer sicherer. Kura war fest entschlossen, mit dem Ensemble zurück nach England zu reisen. Sie reagierte verwundert, als Brigitte ihr verriet, dass die Truppe sich nach der Tournee trennen würde.
»Wir sind nur für Neuseeland und Australien engagiert«, meinte die Tänzerin, die ihre alte Form inzwischen wiedergefunden hatte. Kura empfand in dieser Hinsicht fast Respekt für sie. Brigitte übte so verbissen an einer Stuhllehne als improvisierter Ballettstange wie Kura Tonleitern sang.
»Du glaubst doch auch nicht, dass uns in Europa einer sehen wollte! Die Sänger sind durchweg eine Katastrophe, auch wenn es nur Sabina einsieht. Sie will anschließend aufgeben und Gesangsstunden geben. Und die Tänzer ... ein paar Jungen sind gut, aber die meisten Mädchen sehen nur gut aus. Wahrscheinlich hat unser Roddy sie auch nur nach dem Aussehen ausgesucht. Ein richtiger Impresario ist da kritischer. Den interessiert nicht, wie du lächelst. Dem geht es nur darum, wie du tanzt.«
Oder singst, dachte Kura mit einem Anflug von Angst. Aber sie glaubte fest, dass sie es auch in London schaffen würde. Zumal sie nicht allein war, bestimmt half ihr Roderick weiter. Der hatte doch sicher auch in England Kontakte, und womöglich stellte er ja gleich eine neue Truppe für eine neue Tournee zusammen ...
Kura war also guten Mutes, als sie Australien schließlich verließen und sich nach Wellington einschifften. Von dort ging es zurück zur Südinsel; die Fähre landete in Blenheim. Kura hatte keine Ahnung, dass William dort gerade, als die Sänger von Bord gingen und sich zur Weiterfahrt nach Christchurch rüsteten, in einer zugigen Fabrikhalle am Stadtrand saß und mit den Tücken einer Handnähmaschine kämpfte. Allerdings wusste sie, dass er nicht mehr auf Kiward Station war. Sie schrieb sporadisch an Gwyneira und erhielt auch gelegentlich Briefe von ihr, wenn sie länger an einem Tourneeort war oder wenn George Greenwood sich um die Weiterleitung der Post kümmerte. Über die näheren Umstände von Williams Weggang war sie allerdings nicht informiert. Gwyn schrieb nur, dass auch Miss Witherspoon die Farm verlassen hatte.
Jack hat jetzt einen Hauslehrer, einen sehr sympathischen Studenten aus Christchurch. Er kommt nur am Wochenende, aber dann schafft er es wirklich, Jack und Maata für den »Gallischen Krieg« zu begeistern, was immer das ist. Und die Maori-Kinder unterrichtet zurzeit Jenny Greenwood! Angeblich denkt sie daran, ein Lehrerinnenexamen abzulegen, aber wenn Du mich fragst, hat sie sich nur um die Stelle beworben, weil Stephen O’Keefe im Sommer zu Besuch kommen will. Erinnerst Du Dich noch, wie die zwei auf Deiner Hochzeit geturtelt haben?
Kura erinnerte sich nicht, und es war ihr auch egal. Miss Witherspoon hätte ihr jetzt sowieso nichts mehr beibringen können. Und William ... tagsüber fand sie kaum Zeit, an ihn zu denken, doch in den Nächten vermisste sie ihn immer noch, selbst dann, wenn sie das Bett mit Roderick teilte. Das geschah in letzter Zeit allerdings seltener. Kura verlor zusehends das Interesse an dem älteren und eher langweiligen Liebhaber. Sie verehrte Barrister nicht mehr so sehr wie zu Anfang; inzwischen war sie geschult genug, um die Schwächen seiner Sangeskunst zu erkennen und zu wissen, dass sie es hier mit keinem
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