Das Lied der Maori
Nacht bestand. Schließlich trugen die Männer Tim in die Arztpraxis, und Elaine kümmerte sich um die Pferde. Als Banshee und Fellow zufrieden nebeneinander Heu knabberten, folgte sie den Leroys ins Haus.
»Kann ich noch irgendwas helfen?«
Berta Leroy warf einen Blick auf das zierliche Mädchen in seinem verschmutzten Reitkleid. Lainie wirkte blass und todmüde, doch sie hatte diesen Ausdruck in den Augen, der Berta erkennen ließ, dass sie in den nächsten Stunden sicher keinen Schlaf fände. Berta selbst dagegen brauchte ein Bett. Sie würde schlafen wie ein Stein.
»Sie können bei ihm bleiben, Kleines«, meinte sie nach kurzer Überlegung. »Jemand sollte da sein, wenn er aufwacht. Es kann nichts passieren, er ist nicht in Lebensgefahr. Und falls doch etwas sein sollte, wecken Sie uns.«
»Und was mache ich, wenn er aufwacht?«, fragte Elaine zögernd und folgte der Arztgattin in die Krankenzimmer.
Tim lag bewegungslos auf einem der Betten.
Berta zuckte die Schultern. »Reden Sie mit ihm. Geben Sie ihm etwas zu trinken. Und wenn er Schmerzen hat, soll er das hier nehmen.« Sie wies auf einen Becher mit einer milchigen Flüssigkeit, der neben einer Wasserkaraffe auf dem Nachttisch stand. »Er wird dann sehr bald wieder einschlafen, es ist ein starkes Mittel. Machen Sie ihm einfach ein bisschen Mut.«
Elaine zog sich einen Stuhl ans Bett und entzündete die Lampe auf dem kleinen Nachttisch. Das Hauptlicht hatte Mrs. Leroy gelöscht. Elaine hätte es auch nicht viel ausgemacht, im Dunkeln zu sitzen. Aber wenn Tim aufwachte ... es sollte nicht finster sein. Sie hatte Rolys Worte noch im Ohr.
Er hat immer gesagt, wie dunkel es ist ...
Elaine saß bis zum Morgengrauen an Tims Bett. Sie war ausgelaugt, aber nicht wirklich müde; nach dem furchtbaren Tag kam sie erst jetzt zur Ruhe. Auch Tim sah erschöpft aus. Elaine registrierte jetzt erst, wie eingefallen seine Wangen waren, wie dunkel umrandet die Augen. Und der Steinstaub überall ... Elaine nahm eine im Zimmer bereitstehende Waschschüssel und goss Wasser hinein. Dann wusch sie den Staub aus seinen Augenwinkeln und führte den Waschlappen sanft über all die Fältchen, die sein Gesicht so lausbubenhaft aussehen ließen, wenn er lachte. Dabei achtete sie sorgsam darauf, ihn nur mit dem Tuch zu berühren. Sie fuhr zurück wie vom Blitz getroffen, als ihre Finger versehentlich seine Wange streiften.
Seit jenen entsetzlichen Nächten mit Thomas hatte sie keinen Mann mehr angefasst und war auch mit niemandem mehr allein gewesen. Erst recht nicht bei Nacht in einem dunklen Zimmer. Sie hatte das nie wieder tun wollen. Aber jetzt lächelte sie beinahe über ihre Ängste. Von Tim ging zurzeit nun wirklich keine Gefahr aus. Und sein Gesicht fühlte sich angenehm an. Die Haut war warm, trocken, ein bisschen rau ... Elaine legte den Lappen weg und streichelte zaghaft über seine Stirn, seine Augenbrauen, seine Wange. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn und stellte dabei fest, wie weich es war. Schließlich tastete sie über seine Hände, die still auf der Bettdecke lagen. Kräftige braun gebrannte Hände, die zupacken konnten. Doch sie erinnerte sich auch an den sanften Griff dieser Hände an Fellows Zügel; sie hatte beim Rennen bewundert, wie leicht er das Pferd führte. Tims Finger waren dunkel vom Steinstaub, die Nägel abgebrochen. Hatte er tatsächlich versucht, Verschüttete mit den Händen auszugraben?
Sie streichelte über seinen Handrücken, nahm schließlich seine rechte Hand in die ihre – und schrie erstickt auf, als seine Finger sich um ihre schlossen. Es war verrückt, doch allein der schwache Griff des Verletzten reichte aus, dass sie hysterisch die Hand wegzog und aufsprang, um aus seiner Reichweite zu kommen.
Der Schrei ließ Tim die Augen öffnen.
»Lainie ...«, sagte er leise. »Ich träume ... wer hat geschrien, der Junge?« Tim blickte verwirrt um sich.
Elaine schalt sich für ihre unsinnige Reaktion. Sie trat näher und drehte die Lampe höher.
»Niemand hat geschrien«, sagte sie. »Und der Junge ist in Sicherheit. Sie ... Sie sind in Greymouth bei den Leroys. Matt Gawain hat Sie ausgegraben.«
Tim lächelte. »Und Sie haben sich um mich gesorgt ...«
Damit schloss er wieder die Augen. Elaine griff nach seiner Hand. Sie würde sie jetzt festhalten, bis er wieder erwachte, und dann würde sie ihn anlächeln. Sie musste ihre unsinnige Furcht überwinden. Sie musste nur aufpassen, sich ja nie wieder zu verlieben.
Als Tim das
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