Das Lied der Maori
nächste Mal zu Bewusstsein kam, war es fast schon Morgen. Elaine hielt seine Hand nicht mehr; sie war im Sessel eingeschlafen. Nun fuhr sie auf, als er ihren Namen sprach. Eine Männerstimme, die sie aus dem Schlaf riss ... so hatte es immer angefangen, wenn Thomas ... Aber dies war nicht Sideblossoms harte, herrische Stimme. Tims Stimme war heller, freundlicher und sehr schwach. Elaine schaffte es, ihn anzulächeln. Tim zwinkerte ins Zwielicht.
»Lainie, kannst du ... können Sie das Fenster ... Licht ...«
Elaine drehte am Docht ihrer Lampe.
»Die Vorhänge ...« Tims Hand zuckte auf der Bettdecke, als wollte er sie selbst aufreißen.
»Es ist noch dunkel draußen«, sagte Lainie. »Aber es wird Morgen. Die Sonne geht gleich auf.«
Nervös erhob sie sich und schob die Vorhänge beiseite. Erstes Dämmerlicht fiel ins Zimmer.
Tim blinzelte. Seine Augen waren entzündet vom Staub.
»Ich dachte schon, ich sehe sie nie mehr ... die Sonne. Und ... Lainie ...« Er versuchte, sich zu bewegen, und verzog voller Schmerzen das Gesicht. »Was fehlt mir?«, fragte er leise. »Es tut höllisch weh.«
Elaine setzte sich wieder und griff nach seiner Hand. Ihr Herz klopfte heftig, doch Tim umfasste ihre Finger ganz vorsichtig.
»Nur ein paar Knochenbrüche«, behauptete sie. »Hier, wenn Sie ... wenn Sie das hier trinken ...« Sie griff nach dem Glas auf dem Nachttisch. Tim versuchte, sich aufzurichten und danach zu greifen, doch bei der kleinsten Bewegung durchraste Schmerz seinen Körper. Mühsam hielt er einen Aufschrei zurück; doch einen schwachen Schmerzenslaut konnte er nicht unterdrücken. Elaine sah Schweißtropfen auf seiner Stirn.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen. Sie müssen ganz ruhig liegen ...« Vorsichtig schob sie eine Hand unter seinen Kopf, hob ihn leicht an und führte das Glas an seine Lippen. Tim schluckte mühsam.
»Schmeckt scheußlich«, sagte er und versuchte zu lächeln.
»Hilft aber«, behauptete sie.
Tim lag jetzt still und schaute aus dem Fenster. Er konnte vom Bett aus nicht viel sehen, gerade mal die Silhouetten der Berge, ein oder zwei Dächer, einen Förderturm. Doch es wurde nun rasch hell.
Elaine wusch ihm den Schweiß von der Stirn.
»Es tut gleich nicht mehr weh«, tröstete sie.
Tim sah sie forschend an. Sie verschwieg irgendetwas. Aber sie war hier. Er öffnete die Hand, die er eben bei dem Schmerzanfall zur Faust geballt hatte, und streckte sie ihr einladend entgegen.
»Lainie ... auch wenn es nicht schlimm ist, es fühlt sich ziemlich schlimm an. Könnten Sie ... könnten Sie vielleicht einfach noch einmal meine Hand halten?«
Elaine wurde rot, legte ihre Hand aber in seine. Und dann beobachteten sie schweigend, wie ein ausnehmend schöner Sonnenaufgang die Stadt vor dem Fenster zuerst in Morgenrot und dann in strahlendes Sonnenlicht tauchte.
4
Die Sonne erhob sich über einer verstörten, trauernden Stadt. Die Menschen in Greymouth, selbst die Händler und Handwerker, die nichts mit der Mine zu tun hatten, schienen müde und verzagt. Alles Leben lief verzögert ab, als bewegten Menschen und Fuhrwerke sich in dichtem Nebel.
Dabei schlossen die meisten privaten Minen nicht. Sogar die Arbeiter, die am Tag zuvor bei der Bergung geholfen hatten, mussten wieder einfahren, wollten sie ihren kargen Lohn nicht verlieren. Erschöpft und übernächtigt meldeten sie sich zu ihrer Schicht und konnten nur hoffen, dass ein verständnisvoller Steiger einen ruhigen Job für sie fand oder sie gar über Tage einsetzte.
Das taten Matt und seine Kollegen allerdings nicht gern. Wenn die Männer zu lange aussetzten, würden die Bilder der Verletzten und Toten sich in ihren Verstand einbrennen, und sie würden die Grube von nun an fürchten. Deshalb gab es immer Männer, die nach Grubenunglücken kündigten. Mancher fuhr täglich voller Angst ein, auch wenn es kaum einer zugab. Die meisten dieser Männer arbeiteten seit Generationen im Bergbau. Schon ihre Väter und Großväter hatten in den Minen von Wales, Cornwall und Yorkshire geschuftet, und ihre Söhne fuhren mit dreizehn zum ersten Mal ein. Etwas anderes konnten sich all die Paddys, Rorys und Jamies nicht vorstellen.
Matt und seine Leute gruben an diesem Tag die letzten Toten aus. Ein anstrengender und belastender Job, aber immer noch warteten Frauen und Kinder vor der Grube auf ein Wunder.
Der Reverend versuchte, ihnen beizustehen, gleichzeitig aber auch die anderen anstehenden Dinge rund um die insgesamt sechsundsechzig
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