Das Lied der Maori
Todesfälle zu regeln. Er sandte die Damen seines Hausfrauenvereins zu den Familien der Toten – und beschwichtigte sie anschließend, wenn sie heimkamen, entsetzt über die Zustände in den Bergarbeitervierteln. All der Schmutz, die Armut und die teilweise verwahrlost aussehenden Kinder – Zustände, für die Greymouth’ Matronen allerdings weniger die schlechten Löhne der Arbeiter und die Raffgier der Grubeneigner verantwortlich machten als die mangelnden häuslichen Fähigkeiten der Bergmannsfrauen.
»Überhaupt kein Gefühl für Schönheit!«, erregte sich Mrs. Tanner. »Dabei lässt sich doch auch die ärmlichste Hütte behaglich machen, wenn man nur hier und da ein Kissen platziert, ein paar Vorhänge näht ...«
Der Reverend schwieg und dankte dem Himmel für Madame Clarisse, die immerhin tätige Hilfe leistete, indem sie sich der früheren Freudenmädchen unter den Witwen annahm. Sie lieh beiden das Geld für die Beerdigung, versprach der jüngeren eine erneute Anstellung im Pub und der älteren, an deren Rockzipfel drei Kinder hingen, eine Anstellung in der Küche. Clarisse’ Mädchen halfen auch bei der Identifizierung der Toten, die keine Angehörigen hatten. Bei fast der Hälfte der Opfer würde die Gemeinde für die Bestattung aufkommen müssen. Außerdem sollten ihre Angelegenheiten geordnet und Angehörige in Irland, England oder Wales ausgemacht und vom Tod der Männer benachrichtigt werden. Das alles war schwierig, langwierig und bitter. Am meisten aber grauste den Reverend vor einem Besuch bei Marvin Lambert. Ob es dem Mann passte oder nicht, er musste hier Mitverantwortung übernehmen. Die Frauen und Kinder brauchten Unterstützung. Aber wahrscheinlich würde Nellie Lambert nur endlos über das große Unheil jammern, das über ihre eigene Familie gekommen war. Dabei befand der junge Lambert sich nach Angaben Dr. Leroys nicht mehr in Lebensgefahr. Der Reverend war extra noch mal in der Stadt vorbeigefahren, um nach dem Jungen zu fragen.
»Da kann natürlich immer noch was kommen«, beschied ihn der pessimistische Doktor. »Er wird sehr lange liegen müssen, und das begünstigt Lungenentzündungen. Andererseits ist er ein kräftiger junger Mann ...«
Der Reverend hielt sich nicht mit weiteren Erklärungen auf, sondern versuchte, Nellie Lambert gleich dahingehend zu beruhigen, dass es ihrem Sohn in Anbetracht der Umstände gut ginge. Das kam allerdings nicht an, und auch Marvin Lambert zeigte sich eher uneinsichtig.
»Warten wir erst mal die Ergebnisse der Untersuchungskommission ab«, brummte er. »Vorerst sage ich niemandem Geld zu. Das wäre ja wie ein Schuldbekenntnis. Später kann man über einen Spendenfonds nachdenken ...«
Der Priester seufzte und hoffte, zumindest die dringendsten Ausgaben aus der Kollekte bestreiten zu können. Die Damen seiner Kirchengemeinde planten schon eifrig Sammlungen und die ersten Basare und Picknicks für den guten Zweck.
Die Grubenaufsicht erschien ziemlich bald – tatsächlich trafen die Inspekteure genau in dem Moment ein, in dem Matt sich nach zwei Tagen unausgesetzter Arbeit endlich nach Hause ins Bett begeben wollte. Stattdessen führte er nun die Männer durch die Mine und nahm kein Blatt vor den Mund. Der abschließende Bericht rügte den Minenbetreiber dann auch für die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen. Massiv hatte er jedoch nicht gegen die Auflagen verstoßen; da rettete Lambert der neue Wetterschacht, den er Tim so widerwillig genehmigt hatte und dem er nun auch das Leben seines Sohnes verdankte. Eine kleine Geldstrafe wurde nur deshalb verhängt, weil die Bergungsmannschaften unzureichend ausgestattet waren.
Marvin Lambert tobte, als er das las, denn eigentlich hatten die Kontrolleure nichts davon wissen können. Irgendjemand hatte geredet, er vermutete Matt Gawain, und das nahm Marvin natürlich übel. Mehrmals drohte er Matt mit Kündigung; er schien gar nicht zu erkennen, wie sehr er seine verbleibenden Arbeiter damit verschreckte.
»Dabei fragen viele sowieso schon in den anderen Minen nach Arbeit!«, klagte Matt, als er endlich ausgeschlafen hatte und Tim vor dem erneuten Arbeitsantritt besuchte. »Bisher habe ich es nie so bemerkt, aber irgendwie lebt Ihr Vater in einer anderen Welt.«
Tim nickte. Auch für seinen Unfall machte Lambert inzwischen alles und jedes verantwortlich, nur nicht seine eigene Gleichgültigkeit gegenüber den Sicherheitsmaßnahmen in der Mine. Lambert war sich keiner Schuld bewusst und gedachte auch
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