Das Lied der Maori
sie zunächst auf Nellie Lambert, die bei Berta Leroy saß und in ihre Teetasse heulte.
»Er wird nie mehr gesund!«, sagte sie anklagend zu Lainie. Die beiden Frauen hatten sich in den letzten Tagen manchmal in der Arztpraxis getroffen, doch Mrs. Lambert hatte offenbar keine Vorstellung von Elaines Beziehung zu Tim. Sie schien sie auch kaum wahrzunehmen; Lainie hätte ebenso gut ein Einrichtungsgegenstand des kleinen Hospitals sein können wie ein lebender Mensch. »Der Doktor aus Christchurch hegt die gleichen Befürchtungen wie mein Mann. Er hat die Brüche eingegipst, aber es sind Trümmerbrüche und Stauchungen, und man kann natürlich nicht hineinsehen – zumindest jetzt noch nicht, obwohl in Deutschland ein gewisser Röntgen kürzlich einen Apparat erfunden haben soll, der das kann. Dr. Porter war ganz aufgeregt deswegen. Nun, Tim hilft es jedenfalls noch nicht. Das Richten der Brüche geht also auf gut Glück, und die Wahrscheinlichkeit, dass alles perfekt zusammenheilt, ist gleich null. Immerhin hofft er, die Hüfte gut hingekriegt zu haben, also sollte es wenigstens mit dem Sitzen was werden. Aber man muss abwarten. Tim war jedenfalls sehr tapfer. Gehen Sie ruhig zu ihm, Lainie. Er wird sich freuen.«
»Aber strengen Sie ihn nicht an!«, forderte Mrs. Lambert. »Ich finde eigentlich nicht, dass er heute noch Besuch haben sollte.«
Tim lag im abgedunkelten Zimmer, und Elaine riss als Erstes die Vorhänge auf. Es war noch nicht spät, und es war Sommer – warum zum Teufel hatte diese Mrs. Lambert ständig das Bedürfnis, jedes Sonnenlicht auszusperren?
Tim blickte Elaine dankbar an, brachte aber kein Lächeln zustande. Seine Augen waren glasig; heute hatte er das Morphium geschluckt. Doch es schien nur ungenügend zu helfen, denn er wirkte ausgelaugt und krank. Selbst unmittelbar nach dem Unfall hatte er nicht so hager und gequält ausgesehen.
Elaine setzte sich zu ihm, fasste ihn aber nicht an, denn Tim machte den Eindruck, als wäre
er
es heute, der vor jeder Berührung zurückschreckte.
»Was hat der Arzt gesagt?«, erkundigte Elaine sich schließlich. Die neuen Gipsverbände um Tims Beine wirkten noch martialischer als Dr. Leroys Schienen, waren aber durch eine Decke verborgen. Tim würde sich weigern, sie ihr zu zeigen. Also fragte sie gar nicht erst.
»Viel Unsinn ...«, meinte Tim heiser. Er wirkte schläfrig und gedämpft durch das Morphium. »Genauso ein alter Pessimist wie unser Doktor. Aber da machen wir uns nichts draus, Lainie. Ich werde irgendwann schon wieder laufen können. Geht doch nicht, dass ich mich durch die Kirche schieben lasse. Ich will doch ... auf unserer Hochzeit tanzen.«
Elaine antwortete nicht, schaute ihn nicht einmal an. Aber das empfand Tim beinahe als tröstlich, viel besser jedenfalls als die nachsichtigen und mitleidigen Blicke anderer Besucher, wenn er den Prognosen der Ärzte widersprach. Lainie schien mehr mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen.
»Lainie ...«, flüsterte Tim. »Wegen gestern ... es tut mir leid.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es braucht Ihnen nicht leidzutun. Ich war dumm.« Sie hob die Hand, als wollte sie über seine Stirn streichen, brachte es dann aber doch nicht über sich.
Tim wartete, bis er es nicht mehr ertragen konnte.
»Lainie, es war heute wirklich ein ... bisschen anstrengend. Könnten wir es vielleicht ... noch mal versuchen? Das mit dem Einschlafen, meine ich?«
Wortlos nahm sie seine Hand.
5
Kura-maro-tini war gereizt, wofür sie vielfältige Gründe hätte angeben können. Einmal hatte sie in der vergangenen Woche praktisch keinen Cent verdient. Madame Clarisse mochte ihre Mädchen weiterbezahlen, obwohl in der Trauerzeit nach dem Minenunglück kein Betrieb herrschte, doch Paddy Holloway zahlte nicht. Wenn Kura nicht spielte, gab es auch kein Geld. Das Problem war, dass Mrs. Miller die Miete natürlich weiterhin haben wollte, desgleichen der Mietstallbesitzer. Kura dachte inzwischen schon daran, das Pferd zu verkaufen, doch sie hatte sich an das Tier gewöhnt.
Sie war unschlüssig und ruhelos, aber zufrieden, dass wenigstens die Trauerfeier endlich vorüber war. Dabei hatte es ihr durchaus Spaß gemacht, die Orgel zu spielen – erst recht, da sie damit der widerwärtigen kleinen Elaine ein Schnippchen hatte schlagen können. Aber es war auch nett gewesen, mal wieder ernsthaft Musik zu machen. Obwohl lediglich Caleb Biller ihre Leistung richtig zu würdigen wusste.
Womöglich, gestand Kura sich ein, hing
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