Das Lied der Maori
Kiward Station. Zu traurig, dass den prachtvollen Flügel im Salon des Hauses nun niemand mehr spielte. Oder fand vielleicht ihre Tochter Interesse an der Musik? Aber Gloria war sicher noch zu klein, um überhaupt irgendetwas zu lernen ... Nach wie vor interessierte Kura sich kein bisschen für das Kind. Doch die Erinnerung an Glorias Zeugung ließ Williams Gesicht wieder vor ihr aufsteigen, und sie meinte fast, seine Berührungen zu spüren. Konnte dieser Caleb nicht ein bisschen sinnlicher sein?
Immerhin wirkten seine Finger beinahe zärtlich, als er sie jetzt auf den Tasten des Flügels platzierte und eine kurze Melodie anspielte. Verblüfft erkannte Kura das Hauptmotiv des Trauer-
haka
, den sie im Pub gesungen hatte. Der Mann war zweifellos hochmusikalisch, was Kura noch mehr begeisterte, als er gleich darauf ihren Gesang und ihr Flötenspiel in Notenschrift übersetzte. Caleb schrieb Noten nach »Diktat« wie andere Menschen Buchstaben. Als seine Mutter schließlich zum Dinner rief, hatte er bereits drei Singstimmen und den Flötenpart notiert und fügte sie nun zu einer Art Orchester-Partitur zusammen.
»Das wird wundervoll, Miss Kura!«, begeisterte er sich, während er Kura zu Tisch führte. »Nur schade, dass wir nicht auch den Tanz erfassen können. Obwohl Sie ja sagten, bei diesem Stück gäbe es keine festgelegte Schrittfolge. Schade, dass wir hier nicht die Möglichkeiten der großen Bibliotheken in Europa haben. Bestimmt könnte man Choreographien niederschreiben. Ich weiß bloß nicht, wie es geht ...«
Caleb plauderte angeregt über Partituren und Kompositionen, bis seine Mutter ihn dezent darauf hinwies, dass er damit die gesamte Tischgemeinschaft langweilte. Dabei hatten die anderen Gäste auch keinen interessanteren Gesprächsstoff zu bieten. Außer Kura waren tatsächlich nur Familienangehörige anwesend, die einander kaum etwas zu sagen hatten. Caleb stellte ihr seinen Onkel und dessen Gattin vor sowie seinen Cousin Edmund, der das nichtssagende blonde Mädchen an seiner Seite wohl kurz zuvor geheiratet hatte. Kura erfuhr, dass sowohl Onkel als auch Cousin ebenfalls in der Mine arbeiteten – der Onkel im Kontor, der Cousin wie Caleb in der Leitung der Mine. Im Gegensatz zu Caleb schien er sich allerdings für seine Arbeit zu interessieren und tauschte sich ausführlich mit Josuah über die Versäumnisse und geologischen Gegebenheiten aus, die zum Unfall in der Lambert-Mine geführt hatten. Für die Damen war das genauso uninteressant wie Calebs Gedanken zum zeitgenössischen Opernschaffen.
Die drei Biller-Damen konzentrierten sich deshalb ganz auf die Konversation mit Kura, wobei Calebs Mutter sich größte Mühe zu geben schien, die junge Sängerin im besten Licht darzustellen. Die Fragen der Tante und angeheirateten Cousine konnte man dagegen fast schon als Sticheleien bezeichnen.
»Es muss interessant sein, bei den Eingeborenen aufzuwachsen!«, meinte die junge Mrs. Biller mit unschuldigem Augenaufschlag. »Wissen Sie, wir haben überhaupt keine Maoris in unserem Bekanntenkreis! Ich habe nur gehört«, sie kicherte, »sie hätten sehr freizügige Sitten ...«
»Ja«, antwortete Kura kurz angebunden.
»Es muss Ihrer Mutter schwergefallen sein, sich an das Leben auf einer englischen Farm anzupassen, nicht wahr?«, erkundigte sich die Tante.
»Nein«, erklärte Kura.
»Sie tragen aber keine traditionelle Kleidung, oder? Nicht mal bei Ihren Auftritten?« Die junge Biller betrachtete Kuras Mieder, als würde sie es gleich herunterreißen und barbusig einen
haka
tanzen.
»Das hängt von den Auftritten ab«, meinte Kura geruhsam. »Als ›Carmen‹ trug ich ein spanisches Kleid ...«
»Miss Kura ist in der Oper aufgetreten!«, vermittelte Calebs Mutter. »Sie war mit einem internationalen Ensemble auf Tournee. Auch in Australien und auf der Nordinsel. Ist das nicht aufregend?«
Die Damen pflichteten ihr bei, schlugen dabei aber einen so gönnerhaften Ton an, als bestätigten sie einer wandernden Prostituierten, dass sie zweifellos ein abwechslungsreiches Leben führte.
»Man lernt sicher interessante Männer kennen!«, bemerkte die Tante denn auch gleich.
Kura nickte. »Ja.«
»Unser Greymouth muss dagegen fast abfallen!«, kicherte die Cousine.
»Nein«, sagte Kura.
»Was treibt Sie überhaupt hierher, Miss Martyn?«, erkundigte die Tante sich zuckersüß. »Ich meine, die Arbeit in einem Pub ist doch mit der großen Kunst auf der Opernbühne kaum zu vergleichen.«
»Kaum«,
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