Das Lied der Maori
nach ihr fahnden, alles mit äußerster Diskretion.
»Wir wollen ja schließlich weder Sideblossom noch der Polizei in die Hände arbeiten«, meinte er seufzend. »Der Alte sucht sie doch auch. Auf keinen Fall überlässt der alles dem Constabler – zumal nach der Erfahrung mit James.«
John Sideblossom hatte sich eine wesentlich härtere Bestrafung des Viehdiebs gewünscht, nachdem er McKenzie damals gefangen hatte. Doch zum einen war die Haftstrafe nicht allzu hart ausgefallen, zum anderen hatte der Gouverneur sie auch noch in lebenslange Verbannung umgewandelt. James hatte schließlich einige Zeit im Gefängnis und eine Weile in Australien verbracht, war dann aber zurückgekehrt und schließlich auf Bitten Gwyneiras und der O’Keefes begnadigt worden. John Sideblossom fuchste das heute noch. Er glaubte nicht mehr an die Strenge der Justiz; er hätte das Recht auch im Fall von Elaine gern selbst in die Hand genommen. Aber nach wie vor fehlte von dem Mädchen jede Spur, und Fleurette O’Keefe fehlte der felsenfeste Glaube Maramas an die übersinnliche Verbindung zwischen Mutter und Kind. Sie sah Elaine in ihren Albträumen tot – mal verirrt und erfroren in den Bergen, mal erschlagen und irgendwo verscharrt von John Sideblossom, mal missbraucht und ermordet in irgendeinem Goldgräberlager an der Westküste ...
»Manchmal hätte ich lieber Gewissheit, als mir jede Nacht ein anderes Schreckensbild auszumalen«, schrieb sie an Gwyn und James, und diesmal nickte McKenzie. Er hatte mit Sideblossom so seine Erfahrungen gemacht und konnte sich vorstellen, wovor seine Enkelin floh.
Das erste bekannte Gesicht, das William Martyn auf der Südinsel entdeckte, gehörte zu jemandem, den er längst in England glaubte. Aber es gab kein Zweifel: Die junge Frau, die dort mit zwei niedlichen kleinen Mädchen an der Hand über die Küstenstraße von Blenheim flanierte, war Heather Witherspoon. Sie wandte sich auch sofort um, als William sie ohne große Überlegung mit diesem Namen anrief. Und zumindest stand kein Hass in ihren Augen, als sie ihn erkannte.
»Redcliff«, verbesserte sie allerdings sofort und mit einem gewissen Stolz. »Heather Redcliff. Ich habe geheiratet.«
William hatte jetzt Zeit, sie genauer zu betrachten, und er sah, dass die Ehe ihr guttat. Heathers Gesicht wirkte runder und weicher, ihr Haar war nicht mehr gar so straff zurückgekämmt, und der Stil ihrer Kleidung war völlig verändert. Heather trug nun keine langweiligen grauen oder schwarzen Röcke mehr zu Seidenblusen und wirkte nicht mehr altjüngferlich streng, sondern war dezent modisch gekleidet. Ihr blassblaues Kostüm, unter dem sie eine altrosafarbene Bluse trug, stand ihr hervorragend. Ihre hohen Schnürschuhe hatten einen kleinen Absatz, der ihren Gang graziöser wirken ließ – und sie trug dezenten Goldschmuck.
»Du siehst großartig aus!«, sagte William. »Aber du kannst unmöglich schon zwei kleine Mädchen haben. Obwohl sie dir irgendwie ähnlich sehen ...«
Die Kinder waren tatsächlich ebenfalls hellblond und blauäugig. Allerdings versprach zumindest die ältere, weniger verwaschene Züge zu entwickeln als Heather, und die Jüngere hatte weiche Locken, die ihr noch kindlich rundes Gesicht umspielten.
Heather lachte. »Danke, das höre ich oft. Aber ihr sagt jetzt mal artig Guten Tag zu Mr. Martyn, Annie und Lucie. Starrt ihn nicht so an, das ist nicht damenhaft. Nein, Annie, gib ihm das schöne Händchen!«
Das kleine Mädchen, es mochte fünf Jahre alt sein, verwechselte zwar noch rechts und links, zeigte sich aber willig und hielt William gleich darauf die richtige Hand entgegen. Ihr Knicks verrutschte auch noch ein wenig. Die vielleicht achtjährige Lucie dagegen grüßte formvollendet.
»Die Mädchen sind meine Stieftöchter – ganz wundervolle Kinder, wir sind wirklich stolz auf sie.« Heather fuhr der Jüngeren übers Haar. »Aber wollen wir uns nicht lieber unter einem Dach weiterunterhalten? Es regnet gleich wieder.«
William nickte. Er hatte eine höllische Überfahrt hinter sich und konnte jetzt sämtliche Schauergeschichten bestätigen, die er je über die unberechenbare See zwischen den beiden Inseln gehört hatte. Ein hübscher Teesalon wäre ihm da sehr recht gewesen. Aber wohin führte man hier eine ehrbare Frau?
Heather hatte ihre eigenen Vorstellungen, was das Ziel betraf. »Komm einfach mit zu uns, wir wohnen nur zwei Straßen weiter. Schade, dass du meinen Mann nicht kennen lernen kannst, aber er
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