Das Lied der Maori
Lager in den Bergen und hellen Nächten, in denen er sich aus dem Schlafsack schälte und hinausging, um Vögel und andere Nachtgeschöpfe zu beobachten. Davon gab es viele auf Neuseelands Südinsel. Auch der Kiwi, der seltsam plumpe Vogel, der als Symboltier der Siedler galt, war nachtaktiv.
James McKenzie zeigte sich ebenfalls erfreut, dass er Gwyneira noch antraf, als er vom Viehtrieb zurückkehrte. Die beiden feierten ein ausgiebiges Wiedersehen. Dabei brachte Gwyn ihre wachsende Sorge um Kura zur Sprache.
»Sie zieht immer noch ganz ungeniert mit diesem Maori-Jungen herum, obwohl Miss Witherspoon sie dafür rügt. Wenn es um Schicklichkeit geht, hat sie Augen im Hinterkopf! Und Tonga wandert mal wieder über die Farm, als ob sie bald ihm gehört. Ich sollte ihm nicht zeigen, dass es mich rasend macht, das weiß ich, aber ich fürchte, man sieht es mir an ...«
James seufzte. »Wie es aussieht, musst du das Mädchen bald verheiraten, egal an wen. Sie wird immer Ärger machen. Sie hat dieses ... Ich weiß nicht. Aber sie ist sehr sinnlich.«
Gwyn warf ihm einen indignierten Blick zu. »Du findest sie sinnlich?«, fragte sie misstrauisch.
James verdrehte die Augen. »Ich finde sie verwöhnt und unausstehlich. Aber ich kann durchaus erkennen, was andere Männer in ihr sehen. Und zwar eine Göttin.«
»James, sie ist fünfzehn!«
»Aber sie entwickelt sich atemberaubend schnell. Selbst in den paar Tagen des Viehtriebs ist sie gereift. Sie war immer eine Schönheit, aber jetzt wird sie eine Schönheit, die Männer verrückt macht. Und sie weiß das. Wobei ich mir über diesen Tiare die geringsten Sorgen machen würde. Einer der Maori-Viehhüter hat sie wohl vorgestern belauscht, und angeblich hat sie ihn behandelt wie ein ungezogenes Hündchen. Kein Gedanke, dass sie mit ihm das Lager teilt. Der Junge wird beneidet, muss sich von Kura und den anderen Männern aber auch einiges anhören. Der wird froh sein, wenn er das Mädchen los ist.« James zog Gwyneira noch einmal in die Arme.
»Und du meinst, es findet sich dann gleich ein anderer?«, fragte Gwyn verunsichert. »Einer? Du machst Witze! Wenn sie auch nur mit dem kleinen Finger winkt, steht die Schlange bis Christchurch!«
Gwyneira seufzte und schmiegte sich in seine Arme.
»Sag mal, James, war ich eigentlich auch ... hm ... sinnlich?«
Dann endlich trafen die Frachtwagen in Christchurch ein. Rubens Fahrer lenkten prachtvolle Kaltblutgespanne vor schweren Planwagen.
»Da drin ist auch Platz zum Schlafen«, erklärte einer der Fahrer. »Wenn wir unterwegs kein Quartier finden, können wir Männer in einem Wagen schlafen, und Ihnen lassen wir den zweiten, Madam. Wenn Sie damit vorliebnehmen wollen ...«
Gwyneira wollte gern. Sie hatte in ihrem Leben schon weniger komfortabel genächtigt, und eigentlich freute sie sich sogar auf das Abenteuer. Deshalb war sie bester Laune, als sie die Chaise, bespannt mit einem braunen Cob-Hengst, hinter den Planwagen einreihte.
»Owen kann da oben ein paar Stuten decken«, erklärte sie die Entscheidung, den Hengst anzuspannen. »Damit Fleurette die reinrassigen Cobs nicht ausgehen!«
Kura, an die sie diese Worte gerichtet hatte, nickte gleichmütig. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht darauf geachtet, welches Pferd ihre Großmutter gewählt hatte. Umso interessiertere Blicke warf Kura den jüngeren Fahrern der Frachtwagen zu – Blicke, die nicht minder begehrlich erwidert wurden. Die beiden Jungen begannen sofort, Kura zu hofieren oder besser noch: anzubeten. Doch offen mit der kleinen Schönheit zu flirten, wagte keiner.
Gwyneira kam noch mehr in Reisestimmung, als sie Haldon, den nächsten Ort, endlich hinter sich ließen und auf die Alpen zuhielten. Die schneebedeckten Gipfel, vor denen sich das schier endlose Grasland der Canterbury Plains wie ein Meer erstreckte, faszinierten sie seit ihrer Ankunft in der neuen Heimat. Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem sie zum ersten Mal den Bridle Path zwischen dem Hafen Lyttelton und der Stadt Christchurch überquert hatte. Zu Pferd statt per Maultier, wie die anderen Damen, mit denen sie auf der
Dublin
aus London gekommen war. Sie wusste noch, wie ihr Schwiegervater sich darüber aufgeregt hatte. Doch ihre Cob-Stute Viviane hatte sie sicher durch eine Landschaft getragen, die anfangs so kalt, felsig und unwirtlich wirkte, dass ein Wanderer sie mit den »Hills of Hell« verglichen hatte. Aber dann hatten sie den höchsten Punkt erreicht, und in der
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