Das Lied der Maori
hoffnungslos; schon bevor Elaine ihre Stadtführung beendet hatte, war es so zerzaust, als hätte sie es gar nicht frisiert. William begann darüber nachzudenken, wie es wäre, diesen Wildfang zu küssen. Er hatte Erfahrungen mit vielen mehr oder weniger käuflichen Mädchen in Dublin sowie den Töchtern seiner irischen Pächter; einige der Mädchen waren sehr entgegenkommend gewesen, wenn dafür ein paar Vergünstigungen für ihre Familien heraussprangen, andere gaben sich äußerst tugendhaft. Elaine allerdings weckte Beschützerinstinkte. William sah sie zumindest vorerst eher als reizendes Kind denn als Frau. Sicher eine faszinierende Erfahrung – aber was war, wenn das Mädchen die Sache ernst nahm? Zweifellos war es verliebt bis über beide Ohren. Elaine konnte sich nicht verstellen; die Gefühle, die sie für William hegte, waren unverkennbar.
Fleurette O’Keefe blieb das natürlich auch nicht verborgen. Sie war nicht wenig besorgt, als sie die beiden jungen Leute jetzt auf ihrer Veranda begrüßte.
»Willkommen auf Nugget Manor, Mr. Martyn!«, sagte sie lächelnd und streckte William die Hand entgegen. »Kommen Sie herein, und nehmen Sie einen Aperitif mit uns. Mein Mann kommt auch gleich, er zieht sich nur noch um.«
Zu Williams Überraschung war die Hausbar der O’Keefes gut bestückt. Fleurette und Ruben schienen Weintrinker zu sein. Elaines Vater entkorkte als Erstes einen Bordeaux, um den Wein vor dem Essen atmen zu lassen, aber es gab auch erstklassigen irischen Whisky. William ließ ihn in seinem Glas kreisen, bis Ruben mit ihm anstieß.
»Auf Ihr neues Leben in einem neuen Land! Ich bin sicher, dass Sie Irland vermissen, aber dieses Land hat Zukunft. Wenn Sie sich darauf einlassen, ist es nicht schwer, es zu lieben.«
William stieß mit ihm an. »Auf Ihre wunderschöne Tochter, die mir den Einzug in die Stadt so märchenhaft erscheinen ließ!«, gab er zurück. »Vielen Dank für die Stadtführung, Elaine. Von heute an werde ich dieses Land nur noch mit Ihren Augen sehen.«
Elaine strahlte und nippte am Wein.
Georgie verdrehte die Augen. Na, die sollte noch mal leugnen, verliebt zu sein!
»Waren Sie wirklich bei den Feniern, Mr. Martyn?«, fragte der Junge neugierig. Er hatte von der irischen Unabhängigkeitsbewegung gehört und lechzte nach Abenteuergeschichten.
William wirkte plötzlich alarmiert. »Bei den Feniern? Ich verstehe nicht ...«
Was wusste diese Familie über sein Vorleben?
Ruben war die Sache sichtlich unangenehm. Auf keinen Fall sollte der junge Mann gleich in den ersten fünf Minuten ihrer Bekanntschaft von Fleurettes Spionageaktionen erfahren! »Georgie, was soll das? Selbstverständlich war Mr. Martyn kein Fenier. Die Bewegung ist in Irland praktisch aufgelöst. Als es zu den letzten Aufständen kam, muss Mr. Martyn noch in den Windeln gelegen haben! Entschuldigen Sie, Mister ...«
»Sagen Sie William!«
»William. Aber mein Sohn hat Gerüchte gehört ... Für die Jungs hier ist jeder Ire ein Freiheitsheld.«
William lächelte. »Jeder ist es leider nicht, George«, wandte er sich an Elaines Bruder. »Sonst wäre die Insel längst frei ... aber lassen wir das. Ein wunderschönes Anwesen haben Sie hier ...«
Ruben und Fleurette erzählten ein bisschen von »Nugget Manor«, wobei Ruben die Geschichte seiner erfolglosen Goldgräberei durchaus launig vortrug. William machte das Mut. Wenn Elaines Vater selbst in den Minen versagt hatte, würde er bestimmt Verständnis für seine Probleme aufbringen. Vorerst brachte er diese jedoch nicht zur Sprache, sondern ließ die O’Keefes während des gesamten Dinners die Themen bestimmen. Wie nicht anders zu erwarten horchten sie ihn dabei gründlich aus, aber das brachte William nicht ins Schleudern. Artig gab er weitgehend zutreffende Auskünfte zu seiner Herkunft und Ausbildung. Letztere entsprach der Norm für seine Gesellschaftsschicht: ein Hauslehrer für die ersten Jahre, dann ein elitäres englisches Internat und schließlich College. Letzteres hatte William nicht beendet, doch die Geschichte ließ er aus. Er gab auch über seine Mitarbeit auf dem Hof seines Vaters nur vage Auskünfte. Das Jurastudium in Dublin schmückte er dagegen aus. Er wusste, dass Ruben O’Keefe sich dafür interessierte, und da Ruben das Gespräch dann gleich auf die Home Rule Bill brachte, konnte William gut mitreden. Gegen Ende des Dinners war er ziemlich überzeugt, einen guten Eindruck gemacht zu haben. Ruben O’Keefe wirkte entspannt und
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