Das Lied der Maori
Vielleicht brauchte Kura ja nur gleichaltrige Gesellschaft. Mit ihrer Cousine Elaine würden sich bestimmt Gemeinsamkeiten finden, und Elaine war Gwyn immer vernünftig vorgekommen. Vielleicht würde sie Kura ja den Kopf zurechtsetzen. Gut gelaunt überholte Gwyn die Frachtwagen und führte Owen, den eleganten Hengst, auf die Main Street. Tatsächlich wurde ihr einige Aufmerksamkeit zuteil, und viele Siedler, die sie von früheren Aufenthalten kannten, riefen ihr Grüße zu.
Gwyn verhielt den Hengst schließlich vor Daphne’s Hotel, als sie Helens früheren Zögling davorstehen und mit einem Mädchen plaudern sah. Auch sie kannte Daphne seit über vierzig Jahren und hatte keine Berührungsängste. Daphnes Anblick beunruhigte sie allerdings ein wenig; sie schien ihr seit ihrem letzten Besuch gealtert. Zu viele Nächte in verqualmten Bars, zu viel Whisky und zu viele Männer – in Daphnes Gewerbe alterte man schnell. Das Mädchen neben ihr war dagegen eine Schönheit mit langem schwarzem Haar und schneeweißer Haut. Schade nur, dass sie sich zu stark schminkte und dass ihr Kleid mit all den Rüschen und Volants derart überladen wirkte, dass ihre natürliche Schönheit nicht unterstrichen, sondern eher unterdrückt wurde. Gwyn fragte sich, wie dieses Mädchen in einem Etablissement wie Daphnes gelandet war.
»Daphne!«, grüßte sie. »Eins muss man dir lassen, du hast einen Blick für hübsche Mädchen! Wo holst du die bloß immer her?«
Gwyn stieg aus und gab Daphne die Hand.
»Die finden
mich
, Miss Gwyn.« Daphne lächelte und erwiderte den Gruß. »Es spricht sich herum, wenn die Arbeitsbedingungen stimmen und die Zimmer sauber sind. Glauben Sie mir, es erleichtert den Job ungemein, wenn nur die Kerle stechen und nicht auch noch die Flöhe. Aber meine Mona hier ist ja wohl nichts im Vergleich mit Ihrer Begleitung! Ist das die Maori-Enkelin? Donnerwetter!«
Daphne hatte eigentlich nur einen kurzen Blick in Gwyneiras Chaise werfen wollen; dann aber saugten ihre Blicke sich gleichsam an Kura fest, wie es sonst nur bei den Männern der Fall war. Kura jedoch blickte ungerührt geradeaus. Daphne gehörte sicher zu den Frauen, vor denen Miss Heather sie stets gewarnt hatte.
Nach der ersten Begeisterung schlich sich aber auch Besorgnis in Daphnes Katzengesicht.
»Kein Wunder, dass Sie mit diesem Mädchen Probleme haben«, bemerkte sie leise, bevor Gwyn wieder in den Wagen stieg. »Die sollten Sie ganz schnell verheiraten!«
Gwyn lachte ein wenig gezwungen und ließ ihr Pferd wieder antreten. Sie war ein bisschen verärgert. Daphne war zweifellos diskret, aber wem mochten Helen und Fleurette wohl noch davon erzählt haben, dass Gwyneira und Marama sich mit Kura hoffnungslos überfordert fühlten?
Ihr Zorn schwand allerdings, als sie die Fassade des O’Kay Warehouse passierten und Ruben und Fleurette mit den Fahrern ihrer Frachtwagen sprechen sah. Die beiden wandten sich ihr zu, als sie Owens kräftige Hufschläge hörten, und gleich darauf konnte Gwyn ihre Tochter wieder in die Arme schließen.
»Fleur! Du hast dich kein bisschen verändert! Und ich habe immer noch das Gefühl, eine Zeitreise angetreten und dann in den Spiegel gesehen zu haben, wenn ich dir gegenüberstehe.«
Fleurette lachte. »So alt siehst du auch noch nicht aus, Mommy. Es ist nur ungewohnt, dich nicht vom Pferd steigen zu sehen. Seit wann reist du per Kutsche?«
Wenn James und Gwyneira ihre Tochter gemeinsam besuchten, pflegten sie einfach zwei Pferde zu satteln. Proviant und die anderen notwendigen Dinge passten in die Satteltaschen – und Gwyn und James genossen die gemeinsamen Nächte unter dem Sternenzelt noch immer. Allerdings pflegten sie auch im Sommer zu reisen, nach der Schur und dem Auftrieb der Schafe, und dann war das Wetter deutlich beständiger.
Gwyn verzog das Gesicht. Fleurettes Bemerkung erinnerte sie an die eher unerfreuliche Reise.
»Kura reitet nicht«, sagte sie und versuchte, nicht enttäuscht zu klingen. »Wo sind denn George und Elaine?«
Elaines und Williams Beziehung hatte sich in den letzten Wochen gefestigt. Kein Wunder, schließlich sahen sie sich praktisch täglich. Elaine half ja ebenfalls im O’Kay Warehouse. Und auch nach der Arbeit oder in der Mittagspause gab es immer irgendeinen Grund, zusammen zu sein. Elaine überraschte ihre Mutter durch plötzliche, hausfrauliche Aktivitäten. Immer wieder musste eine Pastete gebacken werden, von der man William dann zwanglos in der Mittagspause etwas
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