Das Lied der Maori
nicht.« Elaine lachte nervös. »Was ist denn noch, Roly?« Sie wandte sich an den Jungen, der mit unglücklichem Gesicht neben der Kutsche stand.
»Ich kann doch nicht reiten!« Rolys Blick war mitleiderregend. »Ich werde den ganzen Weg laufen müssen!«
Seine säuerliche Miene heiterte selbst Tim ein bisschen auf. »Roly, wenn man nicht reiten kann, ist man tot!«, beschied er ihm mit Elaines leicht abgewandeltem Lieblingssatz. »Ich an deiner Stelle wäre froh und dankbar, wenn ich die zwei Meilen laufen könnte. Also bring das Pferd nach Hause. Wer wen trägt oder führt, ist mir egal.«
Roly wagte sich nicht in den Sattel, sondern lief die zwei Meilen tatsächlich durch den aufkommenden leichten Regen. Am Ende des Weges war er sauer. Sein neuer Anzug war nass, und er hatte Mary Flaherty verpasst, die er eigentlich an der Küchentür treffen und mit ein paar Leckereien vom Buffet milde genug stimmen wollte, dass sie ein paar Küsse mit ihm tauschte. Dafür rief ihn ein Reitknecht der Webers an, den er flüchtig kannte. Der junge Mann winkte mit einer Flasche Whisky.
»Komm, Roly, wir feiern auch ein bisschen. Heute Nacht wird dein Mr. Tim wohl keine Krankenschwester brauchen!«
Roly war sonst nicht pflichtvergessen, doch an diesem Abend ließ er Fellow gesattelt vor dem Haus. Zunächst natürlich mit der Überlegung, ihn später zu holen. Dann aber vergaß er ihn. Der Schimmelwallach wartete geduldig. Irgendwann würde jemand ihn erlösen; so lange döste er im Nieselregen vor sich hin. Fellow fiel niemandem auf, bis er – viel später – Gesellschaft bekam.
Nachdem der sechzigste oder siebzigste Gast an dem jungen Paar vorbeigeführt und mit ein paar Worten begrüßt worden war, begann Tim sich fast nach seinem Rollstuhl zu sehnen. Wer war nur auf den Gedanken gekommen, sie stundenlang im Eingang zum Salon stehen und sämtliche Gäste per Handschlag begrüßen zu lassen? »Defilee« nannte es seine Mutter. Elaine war bislang der Meinung gewesen, so etwas gäbe es nur an Königshöfen. Hatte sie wirklich mal davon geträumt, eine Prinzessin zu sein? Nun war es für sie nur langweilig, während Tim allmählich die Kräfte ausgingen. Er warf beinahe neidische Blicke auf Callie, die sich hinter ihnen auf einem Teppich zusammengerollt hatte und tief und fest schlief.
»Wie viele sind es denn insgesamt?«, erkundigte sich Lainie und schob sich etwas näher an ihn heran. Vielleicht konnte er sich ja auf sie stützen, aber eigentlich war sie dafür zu klein und zierlich.
»Fast hundertfünfzig. Der reine Irrsinn«, raunte Tim und lächelte bemüht für Familie Weber. Florence schwebte an Calebs Arm herein, und Caleb erging sich in Dankesworten für Elaine. Er schilderte anschaulich den gewaltigen Stein, der ihm vom Herzen gefallen war, als er von ihrem Einspringen bei Kuras Konzert hörte.
»Schaff nie einem Geologen Steine vom Herzen ...«, ulkte Tim mühsam, als das Paar sich endlich nach drinnen verzog. »Er wird genauestens analysieren, woraus sie bestehen, warum sie fielen und in wie viele Bestandteile sie sich aufgelöst haben.«
Die nächsten Gäste waren zum Glück Matt und Charlene – Letztere in einem hinreißenden grünen Kleid, ebenfalls aus Mrs. O’Briens Produktion – sowie Kura und William. Alle zum Glück nur hungrig statt gesprächig.
»Wo ist das Buffet?«, fragte Kura. Die Zeit, die sie auf der Straße gelebt hatte, hatte sie gelehrt, ein kostenloses Abendessen nicht zu verachten. William versorgte sie mit Champagner, und Lainie und Tim wandten sich den nächsten Gästen zu. Zum Glück waren nicht alle pünktlich. Als der Empfangsraum ein paar Minuten leer blieb, beschloss Tim, die Tortur zu beenden. Er ließ sich aufatmend in einem der Sessel im Salon nieder.
»Vor dem Tanzen muss ich mich erst mal erholen«, murmelte er und kraulte Callie, während Elaine sich nach Champagner umschaute.
Lainie schob sich durch die Menge ihrer Gäste zum Buffet im Herrenzimmer, sprach mit Charlene und Kura und bedankte sich für die Komplimente, die man ihr machte. Alles schien in Ordnung zu sein; aber sie verspürte eine unbestimmte Unruhe. Vielleicht, so dachte sie, ist das alles hier zu märchenhaft. Sie wusste genau, dass sie am kommenden Morgen vor dem Constabler in die Realität zurückgeschubst würde. Elaine lächelte dem Police Officer und dem Friedensrichter zu. Sie grüßten fröhlich zurück. Noch ...
Schließlich balancierte Elaine die soeben ergatterten Champagnergläser in
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