Das Lied der Maori
schüttelte den Kopf. »Aber Thomas Sideblossom ist tot«, sagte er ruhig.
»Ja?«, fragte William. »Seit wann? Er mag sich das zwar jeden Tag wünschen, aber soviel ich weiß, ist er so lebendig wie Sie und ich.« William ließ den Blick von einem zum anderen schweifen. Konnten Lainie und Tim ihm etwas vorspielen? Aber er erkannte ungläubig, dass zumindest das Entsetzen in Elaines Gesicht echt war.
»Ich ... ich hab ihm ins Gesicht geschossen ...«, flüsterte sie.
William nickte. »Das ist nicht zu übersehen. Das Einschussloch war hier.« Er wies auf seine linke Wange. »Die Kugel ging wohl ziemlich flach durch die Nase und in den Kopf. Du hast von unten nach oben geschossen, wahrscheinlich auf die Brust gezielt, aber nicht mit dem Rückstoß gerechnet. Jedenfalls hast du ihn erfolgreich außer Gefecht gesetzt. Er ist rechtsseitig gelähmt, auf dem rechten Auge blind und links fast erblindet. Die Kugel soll noch drin sein und auf den Sehnerv drücken. Aber tot ist er nicht. Glaub mir, Lainie ...«
Elaine hob die Hände vor die Augen. »Das ist ja schrecklich, William! Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«
»Ich dachte, du wüsstest es«, meinte William. »Du doch auch, Kura, oder?«
Kura nickte. »Die Einzelheiten kannte ich nicht, aber ich wusste, dass er nicht tot ist.«
»Und du hast zugelassen, dass ich mich verlobe?« Elaine versuchte, wütend zu klingen, doch in ihrem Kopf kämpfte Fassungslosigkeit mit Erleichterung und Hoffnung. »Ich habe mich zweieinhalb Jahre lang zu Tode gefürchtet!«
Kura zuckte die Schultern. »Entschuldige, Lainie, aber so intensiv hat mich keiner in deine Angelegenheiten eingeweiht. Ich hab mich ein bisschen gewundert ... aber du konntest ja geschieden sein. Oder dieser Sideblossom inzwischen gestorben. Ist er nicht auch geistesgestört?« Sie wandte sich an William.
»Soviel ich weiß, nicht. Obwohl er sich alle Mühe gibt, sich den Verstand wegzusaufen, vom Morphium ganz abgesehen. Er hat wohl ständig Kopfschmerzen und Halluzinationen. Aber bei all dem Morphium und dem Whisky hätte ich die wahrscheinlich auch.«
»Du hast ihn gesehen?« Elaine hielt krampfhaft Tims Hand, während sie William entsetzt anstarrte. »Du bist sicher?« Ihr Gesicht war totenbleich; ihre Augen wirkten riesig und schienen nur noch aus den Pupillen zu bestehen.
»Herrgott, Lainie, schau mich nicht so an! Natürlich bin ich sicher. Ich war zwei oder drei Wochen auf Lionel Station, und ein oder zweimal habe ich ihn gesehen. Sie bringen ihn nur selten dazu, rauszugehen. Angeblich kann er das Tageslicht nicht ertragen. Aber zu überhören ist er nicht! Er brüllt das Personal zusammen, schreit nach Whisky und seiner Medizin ... ein ziemlich unangenehmer Patient, wenn du mich fragst. Aber nicht direkt verrückt, und vor allem ganz sicher nicht tot.«
»Das ändert natürlich alles«, meinte Tim ruhig und zog Lainie an sich. Sie zitterte jetzt unkontrolliert und weinte. »Solange du offiziell Mrs. Sideblossom bist, können wir nicht heiraten. Aber du hast auch keinen Mord begangen. Nun beruhige dich erst mal! Im Grunde sind das gute Nachrichten! Du wirst dich stellen und die Sache gestehen. Du kannst sagen, es sei ein Versehen gewesen. Die Waffe wäre einfach losgegangen. Wir werden mit einem Anwalt reden ... darüber, ob es sinnvoller ist, die ganze Geschichte zu erzählen oder Reue zu mimen. Auf jeden Fall werden sie dich nicht dafür hängen. Du kannst dich scheiden lassen und ganz legal mit mir leben. Hier oder in Wales oder sonst wo.«
»Ich möchte lieber nach Wales«, flüsterte Elaine. Sie hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, möglichst viele Meilen zwischen sich und Lionel Station zu legen. Ein Teil von ihr war erleichtert, keine Mörderin zu sein. Aber sie hatte sich trotzdem sicherer gefühlt, als sie Thomas Sideblossom tot wähnte ...
»Können wir nicht einfach weglaufen, ohne dass ich mich vorher stelle?«
Tim schüttelte den Kopf. »Nein, Lainie. William hat Recht. Wir können unsere Kinder nicht als offizielle Nachkommen von Thomas Sideblossom aufwachsen lassen, egal wo. Wir stehen das schon durch, Lainie. Du und ich. Hab keine Angst!«
»Aber erst nach der Verlobung. Ja, Tim? Bitte! Ich halte es nicht aus, wenn das jetzt alles platzt. Deine Mutter ... die ganze Stadt wird über uns reden ...« Elaine weinte hemmungslos. Das alles war zu viel.
Tim streichelte sie und wiegte sie in seinen Armen. »Also gut, von mir aus nach der Verlobung. Obwohl es mir nicht
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