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Das Lied der Maori

Das Lied der Maori

Titel: Das Lied der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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sagte.
    Auch die Befürchtung, die Leute würden rasch das Interesse verlieren, wenn nicht spätestens nach den ersten Musikstücken ein Wunder geschah, bewahrheitete sich nicht. Im Gegenteil, Kura nahm ihr Publikum gefangen. Sie gab die Vorstellung ihres Lebens, und nach der Hälfte des Konzerts dachte niemand mehr an Flüche und Wunder, sondern ergab sich nur dem Zauber, den Kura wirken wollte. Sie riss Elaine dabei mit. Das Mädchen schien die Bedeutung ihrer Musik zum ersten Mal wirklich zu erfassen. Sie legte endlich Seele in ihr Spiel und fiel gegenüber Kura kaum ab. Den Unterschied bemerkte sogar Tim, der das Programm nun wirklich bis zum letzten Ton auswendig kannte. Jetzt stand er auf dem Balkon seines Zimmers, ließ die hypnotischen Beschwörungen auf sich wirken und genoss den atemberaubenden Blick über die Bucht und die Lichter von Blenheim. Die Melancholie der 
haka
, die Kura für den Mittelteil des Konzerts gewählt hatte, rührte ihn. Tim war müde und mutlos; er sehnte sich danach, weit weg zu sein, empfand aber auch Angst vor dem Scheitern. Er würde sich der Herausforderung stellen – aber was sollte er tun, wenn man ihn in Europa ebenso wenig wollte wie hier? In Greymouth konnte er sich im Zweifelsfall im Haus seiner Eltern verkriechen, Calebs Beispiel folgen und sich irgendwie beschäftigen, um zumindest das Gefühl zu haben, seinem Leben einen Sinn zu geben. Aber in Wales – ohne Einkommen, dafür mit einer jungen Familie?
    Roly folgte ihm auf den Balkon und erfasste seine Schwermut.
    »Was ist, Mr. Tim?«, fragte er schüchtern. »Haben Sie Schmerzen?«
    »Nur Sorgen, Roly«, sagte Tim leise. »Wie war dein Tag? Hast du Wale gesehen?«
    Roly nickte eifrig. »Das ist unglaublich, Mr. Tim! Wie riesig die sind! Und dabei ganz friedfertig. Aber erst hab ich mich zu Tode gefürchtet, als einer auf dieses winzige Boot zuschwamm.«
    Tim lächelte. »Sie sollen Menschen sehr ähnlich sein. Man sagt, dass sie singen ...«
    »Hoffentlich nicht so eine Katzenmusik wie Miss Kura ... oh, entschuldigen Sie, Sir.« Roly war kein Anhänger der Oper. »Werden wir auch Wale sehen, wenn wir nach England fahren, Mr. Tim? Der Mann mit dem Boot meinte, es gäbe auch kleinere, Delphine, und die schwimmen mit den großen Dampfern.«
    »Willst du denn mit nach England?«, fragte Tim verwundert. »Was ist mit deiner Mutter?«
    Roly lachte. »Ach, die braucht mich nicht mehr, die macht jetzt richtig Geld mit ihrer Schneiderwerkstatt! Aber Sie, Sie brauchen mich doch! Oder, Mr. Tim ...?«
    Der Junge schaute beinahe ängstlich zu ihm auf. Tim biss sich auf die Lippen.
    »Ich kann dich vielleicht nicht mehr bezahlen ...«
    Roly runzelte die Stirn und überlegte, während im Saal unter ihnen die Geisterstimme der 
pecorino
 die Wiederkehr einer Liebe beschwor. Aber dann hellte sich sein Gesicht auf.
    »Aber Sie brauchen mich ja auch nicht mehr den ganzen Tag! Da kann ich mir noch eine andere Arbeit suchen und fall Ihnen nicht zur Last. Ich hab nur kein Geld für die Schiffspassage ...« Rolys Mine trübte sich wieder.
    Tim fühlte tiefe Rührung, doch er zwang sich zu lächeln.
    »Das schaffen wir schon, Roly!«
    Roly strahlte. »Das schaffen wir!«
     
    Die beiden genossen das tröstliche Gefühl der Sicherheit beim Gesang der Geister, dann aber rissen sie gedämpfter Lärm und Schreie aus ihrer Versenkung. In den Zimmern über ihnen oder am anderen Ende des Ganges schien ein Kampf stattzufinden. Es hörte sich an, als fielen Möbel um. Ein Mann brüllte etwas Unverständliches; dann erstarb seine Stimme. Eine Frau schrie hysterisch. Irgendetwas schien das Treppenhaus herunterzupoltern ...
    »Geh raus und sieh nach, was da los ist!«, wies Tim Roly an. »Wo kommt das überhaupt her?« Er folgte Roly auf den Korridor vor seinem Zimmer, doch hier befand sich offensichtlich nicht das Zentrum der Ereignisse. Zimmermädchen und andere Hotelbedienstete eilten an ihnen vorbei in Richtung des Lärms. Roly wollte ihnen neugierig nachsetzen, doch Tim hielt ihn zurück.
    »Warte, ich hab’s mir überlegt. Was immer da passiert ist, gleich stehen genug Leute drumherum, die sowieso nicht helfen können. Hilf mir lieber, mich umzuziehen. Schnell, ich möchte zu Lainie. Wir gehen sie abholen. Ich hab ein ungutes Gefühl ...«
    Tim und Roly erreichten den Saal pünktlich zum Ende des Konzerts, während vor dem Hotel Ambulanzen vorfuhren und die Flure von Lärm erfüllt waren. Tim nahm den Aufzug, was den Hotelangestellten

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