Das Lied der Maori
wieder mal alle Blicke auf Gwyneiras Enkelin. Elaine litt Höllenqualen, wenn William dem ungeschickten Mädchen fürsorglich über die vereiste Straße half und mit ihr lachte, wenn sie versuchte, die Melodie der Schneeflocken zu erspüren. Für Elaine fielen sie lautlos. Inzwischen war sie fast schon selbst davon überzeugt, gänzlich unmusikalisch zu sein und keinen Sinn für Romantik zu haben. Schließlich aber hielt sie es nicht mehr aus. Sie würde William fragen, ob er sie noch liebte.
Gelegenheit dazu fand sie an einem der nächsten Abende. Helen hatte einen Musikabend in ihrer Pension arrangiert. Es gab einige klassische Musikliebhaber auf den umliegenden Farmen, die auch selbst die Geige, die Bratsche oder den Bass spielten. Sie kamen gern nach Queenstown, musizierten zusammen und verbrachten die Nacht in Helens Pension. Früher hatte Elaine bei diesen Hauskonzerten den Klavierpart übernommen, jetzt spielte natürlich Kura. Elaine wagte sich im Beisein ihrer Cousine schon längst nicht mehr an ein Instrument. Auch die O’Keefes blieben in dieser Nacht in der Stadt; das Wetter machte den weiten Weg hinaus nach Nugget Manor zu beschwerlich. So konnten Elaine und William sich nach dem Konzert, als alle noch entspannt bei einem Glas Wein beisammensaßen, zu ein paar verstohlenen Zärtlichkeiten hinausschleichen. Elaine hatte dabei allerdings das Gefühl, dass William Kura nur ungern im Kreis der Bewunderer ließ. Ihre Cousine hielt regelrecht Hof: Die Komplimente für ihr Spiel und ihre Schönheit nahmen kein Ende. Denkt William wirklich an mich, fuhr es Elaine durch den Kopf, als er sie jetzt an sich drückte und küsste? Oder stellt er sich vor, Kura in den Armen zu halten?
»Hast du mich eigentlich noch gern?«, platzte sie heraus, als er sie schließlich freigab. »Ich meine, richtig gern? Bist du ... bist du noch in mich verliebt?«
William schenkte ihr einen freundlichen Blick. »Dummerchen! Wäre ich hier, wenn es nicht so wäre?«
Genau das hatte Elaine wissen wollen. Aber er brüskierte sie schon wieder, indem er sie »dumm« nannte.
»Im Ernst, William. Findest du Kura nicht schöner als mich?« Elaine hoffte, dass ihre Frage nicht wie ein Flehen klang.
William schüttelte den Kopf und wirkte jetzt beinahe verärgert.
»Lainie, der Unterschied zwischen dir und Kura besteht darin, dass sie mich so etwas nie fragen würde!« Damit ließ er sie stehen und ging ins Haus. War er beleidigt? Weil sie ihn falscher Gefühle verdächtigt hatte? Oder eher deshalb, weil er ihr nicht ins Gesicht sehen wollte?
Hinter einem Vorhang stand Kura und beobachtete das Geschehen. Tatsächlich. Er küsste Elaine. Sie hatte schon so etwas vermutet, es bisher aber nie gesehen. Kura war nicht erzürnt. Wenn William dieses Mädchen küsste, dann sicher als Notbehelf. Männer brauchten Mädchen; auch das hatte sie bei den Maoris gelernt. Wenn sie längere Zeit keiner Frau beilagen, wurden sie unleidlich. Aber William hatte etwas Besseres verdient. Er war zweifellos ein Gentleman. Kura würde ihm vorsichtig zu verstehen geben, dass auch der Puls der Erde eine Melodie besaß – und dass es schöner war, sie mit einer Hörenden zu erforschen.
Im Juni erhielten Ruben O’Keefe und seine Familie eine seltsame Einladung. Die Schweden im Goldgräberlager feierten Mittsommer – ohne Rücksicht darauf, dass der 21. Juni in Neuseeland nicht der längste, sondern der kürzeste Tag des Jahres war und dass zu dieser Zeit nicht die Wiesen blühten, sondern allenfalls Eisblumen an den Fenstern. Doch so etwas focht die rauen Nordländer nicht an; Bier und Schnaps schmeckten auch auf dieser Hälfte der Erdkugel, Feuer ließen sich genauso entzünden, und beim Tanzen wurde einem sowieso warm – nur mit dem Blumenpflücken würde es etwas schwierig werden. Aber das ging ja ohnehin eher die Mädchen an; die Männer konnten darauf verzichten. Damit es überhaupt ausreichend Mädchen gab, luden die Goldgräber Daphne und die ihren ein.
»Je leichter die Mädels, desto besser können sie mit uns übers Feuer springen!«, meinte Søren, einer der Organisatoren des ungewöhnlichen Festes. »Aber Sie können Ihre Tochter ruhig mitbringen, Mr. Ruben. Wir wissen schon, wer eine Lady ist!«
Fleurette fand die Idee lustig. Sie hatte von Mittsommerbräuchen gelesen und wollte nun unbedingt durchs Johannisfeuer tanzen. Ruben nahm die Einladung auch schon deshalb an, weil die Goldgräber zu seinen besten Kunden zählten. Helen allerdings
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