Das Lied der Maori
Götter waren eben auch nicht vollkommen, wie es schien. Bestimmt gelang ihnen nur selten ein Meisterstück wie Kura – oder William Martyn. Dem fühlte sie sich seelenverwandt. Dagegen Leute wie Elaine ... Kura sah zwischen ihr und sich selbst weniger Gemeinsamkeiten, als es zwischen einem Schmetterling und einer Motte gab.
Insofern achtete sie auch nicht bewusst darauf, was sich immer noch zwischen Elaine und William abspielte. Kura hatte keinerlei Bedenken, ihren Auserwählten mit ihrer Cousine allein zu lassen. Und so brachte William Elaine immer noch heim, und immer noch küsste er sie. Das war das Einzige, was das Mädchen in diesem Herbst überhaupt noch aufrecht hielt.
Elaine litt Höllenqualen, wenn sie Kura und William reden hörte – über Musik und Kunst, über die Oper, die neuesten Bücher –, alles Dinge, die in Queenstown niemanden wirklich beschäftigten. Dabei war Elaine selbst keineswegs ungebildet – als Helen O’Keefes Enkeltochter war sie unweigerlich mit Kultur in Berührung gekommen. Und jetzt, da William sich offensichtlich so für Kunst interessierte, bemühte sie sich auch gezielt, zumindest auf dem literarischen Sektor alle Neuerscheinungen zu lesen und sich vielleicht eine Meinung zu bilden. Doch Elaine war ein pragmatischer Mensch. Mehr als ein Gedicht pro Tag machte sie kribbelig, die geballte Poesie ganzer Lyrikbände schien sie zu erschlagen. Elaine mochte auch nicht erst an einer Geschichte herumdeuten müssen, bevor ihr deren Sinn und dann die Schönheit aufging. Sie konnte mit den Helden eines Buches leiden und lachen, aber pausenlose Nabelschau, weinerliche Monologe oder endlose Landschaftsschilderungen langweilten sie. Wenn sie ehrlich sein sollte, stibitzte sie am liebsten die Literaturzeitschriften ihrer Mutter und ergötzte sich an den Fortsetzungsgeschichten, in denen Frauen liebten und litten.
Aber das konnte sie vor Kura natürlich nicht sagen, und jetzt eben auch nicht mehr vor William. Der war ihr eigentlich gar nicht als ein solcher Schöngeist erschienen, als sie sich kennen gelernt hatten. Nun schien er plötzlich nichts Befriedigenderes zu kennen, als mit Kura Gedichte zu rezitieren oder ihrem Klavierspiel zu lauschen. Seine langatmigen Gespräche mit Kura verdarben Elaine all die Unternehmungen, die ihr sonst Spaß machten, beispielsweise Picknicks und Bootsregatten. Und sie schien dabei ja auch nie etwas richtig zu machen! Wenn sie aufsprang und dem Achter, in dem George ruderte, lauthals zujubelte, schauten Kura und William sie an, als hätte sie sich auf der Main Street des Mieders entledigt. Und wenn sie sich beim Kirchenpicknick in eine ausgelassene Runde von Squaredancern ziehen ließ, rückten die beiden hinterher regelrecht von ihr ab. Das Schlimmste aber war, dass Elaine mit niemandem richtig darüber reden konnte. Manchmal meinte sie, verrückt zu werden, weil sie scheinbar die Einzige war, die all diese Veränderungen in Williams Verhalten erkannte.
Ihr Vater war nach wie vor begeistert von seinem Einsatz im Laden, und Grandma Helen fand es völlig normal, dass ein junger Mann sich »korrekt« verhielt. Elaine konnte ihr ja schlecht sagen, dass William sie vorher schon geküsst und an Körperstellen gestreichelt hatte, die ... nun ja, die eine Lady ihm eher nicht zugänglich machte. An ihre Mutter wollte sie sich nicht wenden, wusste sie doch, dass Fleurette William nie wirklich gemocht hatte. Und Grandma Gwyn ... unter normalen Umständen wäre sie sicher die ideale Ansprechpartnerin gewesen. Elaine spürte schließlich, dass Kuras ständiges Gerede über Kunst und ihre endlosen Vorträge über Musiktheorie auch ihr auf die Nerven gingen. Aber Grandma Gwyn liebte Kura über alles. Auf Kritik an ihrer Enkelin reagierte sie bestenfalls mit eisigem Schweigen, oder sie nahm Kura sogar in Schutz. Und Williams Beziehung zu Kura schien sie auch zu billigen; zumindest hatte sie nichts gegen den jungen Mann. Elaine sah Gwyn und William oft miteinander plaudern. Kein Wunder, denn dieses
whaikorero
-Naturtalent konnte ebenso beredt über Schafe sprechen wie über Musik.
Inzwischen war der Winter hereingebrochen. In den Bergen lag Schnee, und mitunter stürmte und schneite es auch in Queenstown. Gwyneira erstand einen Pelz für Kura, in dem das Mädchen aussah wie eine Südseeprinzessin, die sich verlaufen hatte. Das schwarze Haar und die exotischen Züge, umrahmt von der weiten Kapuze des Silberfuchsmantels, verblüfften den Betrachter und lenkten
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