Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
hatte dann mit Nan im Atelier gearbeitet. Sie hatte an diesem Tag bereits eine Menge über die Töpferei gelernt: welche Stücke sich leicht verkaufen ließen und was als unverkäuflich bewertet wurde oder auch wieder auf dem Lehmhaufen landete, um neu geformt zu werden. Nan hatte sie sogar geschickt dazu verleitet, zu versprechen, ein paar eigene persönliche Stücke herzustellen und Miniaturlandschaften der Insel auf ein paar Vasen zu malen, die dann eine Glasur bekommen und nach dem Brennen außerhalb der Insel verkauft werden sollten.
Jessica war der Meinung, dass Nan beabsichtigte, sie zu beschäftigen, um sie von den »merkwürdigen« Dingen abzulenken, wie ihre Freundin es nannte. Doch irgendwie war sie, obwohl sie Nans Bemühungen anerkannte, zu dem Schluss gelangt, dass sich Sarah, wenn sie sich einmischen und ihr ihre Gegenwart aufdrängen wollte, von nichts und niemandem daran hindern lassen würde.
Sie hatte sich lange mit Marcus über Sarah unterhal ten, und schließlich musste sie zugeben, dass, auch wenn sie sich wochenlang gegen diesen Gedanken gewehrt hatte, der so sehr im Widerspruch zu all ihren früheren Überzeugungen stand, Sarah wahrscheinlich ein Geist war, der sich aus einem nur ihr bekannten mysteriösen Grund mit ihr in Verbindung gesetzt hatte. Jetzt dachten Jessica und Marcus das Gleiche: Sarah wollte oder brauchte etwas von ihr, und dieses Etwas hing mit einem Ereignis in Sarahs Leben zusammen und mit den Gesichtern in dem Gemälde.
Gott sei Dank konnte sie mit Marcus darüber reden, und zwar wesentlich besser als mit Simon. Ihr Ehemann fühlte sich bei dem Gedanken an Spiritualismus und den Glauben an das Übernatürliche ebenso unwohl wie bei dem Gedanken daran, dass sie geistig verwirrt sein könnte. Eine Welle von Traurigkeit durchlief sie, als sie sich dies eingestand und auch , wie sehr Simons Haltung sie enttäuschte. Sie hatte mehr von ihm erwartet, und seine immer dickköpfigere Weigerung, ihr bei ihrer Erfahrung mit Sarah zu helfen, trug nur zu ihrer Desillusionierung bei, wenn sie gelegentlich über den Zustand ihrer Ehe nachsann.
Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr alles. Nicht Damians Tod war der Katalysator gewesen, der sie auf diesen felsigen Pfad geführt hatte. Die Veränderung hatte bereits vor seiner Geburt begonnen – nämlich als Simon angefangen hatte, seinen Traum von dem Geriatriekomplex in die Tat umzusetzen, von dem er in den letzten beiden Jahren immer besessener wurde. Und während sie noch hoffte, dass ihre Ehe wieder so werden würde, wie sie früher einmal gewesen war, stark und glücklich, Tag für Tag, hatten Simons Entfernung von ihr und ihre eigene Reaktion …
Sie unterbrach sich mitten in ihrem Gedankengang. Was war ihre Reaktion gewesen? Akzeptanz, Verzweiflung, ein Gefühl der Trauer um das, was sie einst geteilt hatten, und ja, mittlerweile auch ein gewisses Maß an Gleichgültigkeit. Wirklich? Sie gab sich einen Ruck. Lass diese Gedanken fallen. Wir haben nur eine schwere Zeit, das ist alles.
»Fertig?«
Beim Klang seiner Stimme fuhr Jessica zusammen. Marcus saß bereits auf dem Motorrad und spielte am Gashebel. Er gab ihr einen Helm, den sie schnell aufsetzte. Sie band sich ihr Sweatshirt um die Schultern und stieg hinter ihm auf. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie mit ihren Händen hin sollte.
»Du musst ihn um die Taille fassen, Liebes«, forderte Nan sie grinsend auf. »Er wird schon nicht beißen. Zumindest sagt er das den Frauen immer.«
»Frauen!«, lachte Marcus. »Welchen Frauen?«
Ein wenig zögernd schlang Jessica die Arme um seine Taille und verschränkte fest die Hände über seinem Bauch. Sie würde ganz bestimmt nicht darüber nachdenken, welche verräterische Reaktion ihr Körper auf diese Nähe zu ihm zeigte. Seine Wärme drang durch ihre Haut, durch das Gewebe bis direkt in ihre Seele. Mein Gott, sie benahm sich ja wie ein verliebter Teenager! Das war im reifen Alter von fast neununddreißig Jahren dann doch ziemlich lächerlich.
»Wohin fahren wir?«, erkundigte sie sich laut, um den Motorenlärm zu übertönen.
»Ich muss dir ein paar ganz besondere Orte zeigen. Wir fahren auf ein paar Wegen, auf denen man mit dem Auto nicht weiterkommt. Hast du deine Kamera?«
»Hängt um meinen Hals!« Sie überprüfte ihre Aussage, indem sie auf die Kamera klopfte.
»Na dann, lass uns fahren!«
Sie fuhren zur nördlichsten Spitze der Insel, Point Vincent, und zum höchsten Punkt, Mt. Bates,
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