Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
Marcus, ich … ich habe sie gesehen, Sarah , dort oben.«
»Wo genau?«
»N-neben der hohen Pinie.« Sie wies auf die Stelle. »Aber jetzt ist sie weg.«
Marcus hielt sie fest und streichelte ihr Haar. Mehr wagte er nicht zu tun, aus Angst, seine Gefühle für sie zu verraten. Gott sei Dank hatte sie keine Ahnung, wie sehr sie ihn berührte, sonst würde er sie wahrscheinlich für immer verschrecken. »Es ist alles gut, Jessica, du bist in Sicherheit.« Sein Blick wanderte über die Stelle, auf die sie gezeigt hatte. Er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.
»Du glaubst mir doch, oder?«
»Natürlich«, versicherte er ihr. Er war unentschieden, ob er sie festhalten und trösten sollte, bis sie sich beruhigt hatte, doch der Psychologe in ihm erkannte den Vorteil, der darin lag, ihr jetzt Fragen zu stellen, solange das Ereignis noch frisch war.
»Sie, sie hat wieder zu mir gesprochen. Ich habe die Worte in meinem Kopf gehört. Es fühlte sich so seltsam an, als ob sie direkt mein Gehirn anzapfen würde.«
»Was hat sie gesagt?«, wollte er nachdenklich wissen.
Stirnrunzelnd versuchte sich Jessica an die genauen Worte zu erinnern und biss sich auf die Unterlippe. »Dass ich keine Angst haben sollte und dass sie mir etwas zeigen müsse. Als ich dann Angst bekam, bat sie mich, nicht zu gehen.« In ihren blauen Augen spiegelte sich ihre Verzweiflung, als sie ihn fragte: »Du hast wirklich nichts gesehen und gehört?«
Er schüttelte den Kopf. »Ist es okay, wenn ich zu der großen Pinie gehe und einmal nachsehe?«
Jessica hielt in seinen Armen auf einmal ganz still, so als ob ihr erst jetzt bewusst wurde, wo sie sich befand und dass sie dort nicht sein sollte. »Natürlich.«
Sie ließ die Arme sinken und trat zurück. Glücklicherweise hatte sie die Kontrolle über sich wieder. Sie hatte sie minutenlang verloren und nur noch ganz instinktiv reagiert. Außerdem wollte sie nicht darauf eingehen, wie es sich angefühlt hatte, in seinen Armen zu liegen, weil … Das brauchte sie nicht, denn sie wusste sowieso, dass es sich viel zu gut angefühlt hatte. Als Marcus ging, schlang sie die Arme um den Körper und konnte so ein paar Sekunden lang seine Körperwärme noch spüren.
Aus den Büschen um die hohe Pinie sah Sarah Jessica und dem Mann namens Marcus müde zu. Sie sah, wie sie sich umarmten, wie er forschend um den großen Baum schritt und sie dann an der Hand den Hang hinunter außer Sichtweite führte. Sie hatte sich ziemlich auf Jessicas Reaktionen eingestellt und spürte ihre widerstrebende Zuneigung zu diesem braunhaarigen Mann und auch, dass er sie zehnfach erwiderte. Jessica stand ein Sturm der Emotionen bevor, doch darum machte sie sich keine großen Sorgen. Sie wusste, dass Jessica, wenn die Zeit dafür gekommen war, die richtige Entscheidung treffen würde. Außerdem waren im Moment andere Dinge wichtiger.
Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie Jessicas Willenskraft und ihre Fähigkeit zu reagieren unterschätzt hatte. Die Frau war nicht schwach und würde daher nicht einfach tun, was sie wollte, nur weil sie es so wollte. Sie hatte gedacht, sie sei bereit für den visuellen Kontakt, und die physische Manifestation hatte sie zeitweilig viel Kraft gekostet. Sie war nun sehr erschöpft und hatte doch zu wenig erreicht.
Sie legte den Kopf schief. War das wirklich so?
Sie hatte gesehen, wie die Furcht Jessicas Neugier besiegte, hatte gespürt, wie sie sich zurückzog, noch bevor sie sich umgedreht hatte und weggelaufen war. Doch der Mann hielt es für möglich, dass sie existierte, und sie merkte, dass er keine Angst davor hatte, was sie darstellte: eine Art von Leben jenseits des Lebens, wie er es kannte. Außerdem hatte er Einfluss auf Jessica, das war deutlich, und das konnte ihr in Zukunft von Nutzen sein.
Wie müde sie war! Sie musste sich ausruhen und sich für die nächste Begegnung bereit machen. Im Gemälde mussten noch mehr Gesichter gezeigt werden, und bald würde sie Jessica zeigen, was diese brutalen, feigen Männer getan hatten … und auf welche Weise sie sich an ihnen gerächt hatte. Elijah Waugh, das Abbild des Teufels, der Anführer, die Wurzel all ihrer Leiden, war der Erste gewesen. Er war der Erste, an dem sie ihre neu entdeckten Fähigkeiten ausprobiert hatte …
Im dichten Gebüsch am Wasser wartete Sarah ab, denn ihr stand die ganze Ewigkeit zur Verfügung. Stundenlang hatte sie den Soldaten und Sträflingen bei ihren Bemühungen zugesehen, mit dem Leichter das
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