Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
Einatmen, Laufen, Farben, Stofflichkeit. Ihre Hände strichen über die halblange Jeans und fühlten das leicht raue Material, das sie dann mit der dünnen Baumwolle ihres T-Shirts verglich. Als sie zum Wintergarten zurückging, wusste sie, was sie zu tun hatte. Es war nicht einmal ein bewusster Gedanke, es war, als ob sie etwas dazu zwang, was sie nicht unter Kontrolle hatte.
Sie nahm die Palette auf, drückte eine Tube Farbe darauf und begann dann mit dem Kamelhaarpinsel einen Hautton anzumischen …
Drei Stunden später trat sie von der Staffelei zurück, um ihre Arbeit zu begutachten. Nicht schlecht! Sie selbst hatte das letzte Gesicht eingesetzt, das von Timothy Cavanagh. Ein sanfter Jüngling mit roten Wangen sah sie unter dichten Babywimpern aus blauen Augen an. Blondes Haar fiel ihm in die Stirn, und seine Koteletten waren sehr dünn, da er noch nicht viel Bart hatte. Sein Kinn war ausgesprochen schwach und verriet einen ebenso schwachen Charakter, und dem Ausdruck seiner Augen hatte sie eine gewisse emotionale Verletzlichkeit verleihen können. Ja, gar nicht so schlecht. Natürlich fehlte ihr die Reinheit von Sarahs Pinselführung, ihre subtile Art, Ton in Ton zu mischen, um Licht und Schatten zu erzeugen, doch insgesamt war es ein gutes Porträt des Mannes, den sie in ihrem Traum gesehen hatte.
Sie sollte Marcus anrufen.
20
arcus trat von der Staffelei zurück, um das vierte Gesicht besser betrachten zu können. Timothy Cavanagh mit seiner typisch englischen Gesichtsfarbe, der hellen Haut, rosigen Wangen und seiner Jugend unterschied sich von den anderen dreien so sehr, dass er gar nicht in das Bild zu passen schien. Jetzt war Sarahs Schurkengalerie komplett, stellte er fest, als er das ganze Bild ansah, und sie hatten alle im 58. Regiment gedient, wie die Aufzeichnungen ergeben hatten. Jessica hatte ein gutes Porträt des jungen Soldaten gemalt, dachte er, sie hatte den Anschein von Schwäche, der von ihm ausging, seinen mangelnden Charakter und seine fehlende Persönlichkeit gut eingefangen.
Mit ungewöhnlich ernstem Gesichtsausdruck blickte er zur Küche, wo er Jessica den Kaffee machen hörte. Ir gendetwas an ihr war anders, das hatte er sofort gespürt, als sie ihm die Tür geöffnet hatte. Es war nicht so, als ob sie deprimiert war, nicht einmal distanziert, sondern eher so, als ob ihr wichtige Dinge auf der Seele lägen, durch die sie etwas abwesend wirkte. Es war allerdings nicht schwer zu erraten, was sie bedrückte. Simon. Er hatte gestern mit ihm über ihre psychologische Situation gesprochen und war von seinem offenkundig mangelnden Interesse sehr entsetzt gewesen. Es war, als ob es ihm inzwischen egal war, ob seine Frau völlig durchdrehte oder ob sie mittlerweile zu einem relativ normalen Zustand zurückgekehrt war, was zumindest Marcus' professionelle Meinung war. Simons Verhalten war weit von der ängstlichen Besorgnis entfernt, die er zu dem Zeitpunkt an den Tag gelegt hatte, als er Marcus um Hilfe bat.
Marcus war scharfsinnig genug, um zu erkennen, dass sich in der Beziehung der Pearces etwas getan hatte. Er hatte die Spannungen seit Wochen gespürt, doch dass es schließlich in so kurzer Zeit passiert war, war mehr als erstaunlich. Zweifellos hatte Sarahs Einmischung wie ein Katalysator gewirkt, um einen Keil zwischen die beiden zu treiben, aber er war gleichzeitig intelligent genug zu erkennen, dass Sarah nicht der einzige Grund für ihr Zerwürfnis sein konnte … der lag wahrscheinlich viel weiter zurück. Außerdem konnte er den Levinski-Faktor nicht ausschließen. Bei allem, was er von ihr wusste, konnte er sich vorstellen, dass sie sich bei Simon eingeschleimt hatte – und das konnte für den Doktor Ärger der übelsten Art bedeuten.
Jessica reichte ihm seinen Kaffee. »Was hältst du davon?«
»Ich finde es sehr gut«, grinste er, während er am Kaffee nippte. »Das Bild, meine ich. Es ist erstaunlich, wie gut du seine Züge eingefangen hast, obwohl du ihn nur ein einziges Mal in einem Traum gesehen hast.«
»Nun, der Traum war sehr deutlich. Hätte Timothy Sarah nicht abgelenkt, hätten die anderen nicht so leichtes Spiel gehabt, sie zu entführen. Daher denke ich, dass sich seine Züge tief in mein Unterbewusstsein eingebrannt haben.«
»Hat Simon es schon gesehen?«
»Nein«, meinte sie zurückhaltend. »Ich habe es gemalt, nachdem er schon fort war.«
Marcus holte tief Luft und rückte mit der Frage heraus: »Möchtest du mit mir über Simon reden?«
Jessica
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