Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
auch noch nie das zweifelhafte Vergnügen, aber es gibt da so Geschichten. Besuchern der Insel, und vor allem Besuchern dieses Friedhofs ist schon so manches Mal etwas Seltsames passiert.« Er bemerkte ihren skeptischen Blick und erklärte: »So etwas, was Ihnen gerade geschehen ist. Stimmen, Kältegefühl, Ohnmachtsanfälle. Hellseher sind hierher gekommen, die gesagt haben, dass sie hier so viel spirituelle Energie verspürten, dass sie vor Angst schlotterten, obwohl sie solche Dinge doch gewohnt sein sollten.«
Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Sie nehmen mich auf den Arm, nicht wahr?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ob Sie an Geister glauben oder nicht, es ist möglich, dass sie einer von ihnen eben heimgesucht hat. Soweit ich gehört habe, warten sie normalerweise bis nach Einbruch der Dunkelheit oder tun es vor Sonnenaufgang. Aber manchmal, wenn sie sehr stark sind, können sie auch bei Tag kommen.«
Jessica sah sich auf dem Friedhof um, das weiche Gras, die hohen Pinien im hellen Sonnenschein. Die Vorstellung von Geistern, Gespenstern oder Ähnlichem war abstrus.
»Marcus, Sie erwarten doch nicht, dass ich Ihnen das glaube, oder?«
Er zuckte mit den Schultern und schaute zur Seite. »Ich habe leider keine logischere Erklärung für das, was Ihnen passiert ist. Ich habe mit Leuten gesprochen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, und die meisten zeigten die gleichen Symptome und reagierten genauso wie Sie.«
Jessica lachte und hielt sich dann die Hand vor den Mund. Entschuldigend sah sie ihn an. »Es tut mir leid, aber ich kann das, was Sie sagen, nicht wirklich ernst nehmen.«
»Na gut, dann vergessen Sie es.« Er merkte, dass er versuchte, eine Skeptikerin zu überzeugen, und eventuell war es in ihrem Zustand besser, wenn sie nicht daran glaubte, auch wenn er wusste, dass sich seine Meinung auf vernünftige Fakten gründete. Lächelnd meinte er: »Dann geben Sie unserem launischen Norfolk-Wetter die Schuld. Aber erzählen Sie mir doch, was Sie hier tun?«
»Oh, das Licht war zu schlecht zum Malen, also habe ich gedacht, ich spiele ein bisschen Tourist.«
»Ich verstehe. Haben Sie Hunger? Möchten Sie etwas essen gehen?«
Sobald er das Wort »Essen« aussprach, stellte Jessica fest, dass sie kurz vor dem Verhungern war. Das musste an der frischen Inselluft und dem Spaziergang liegen.
»Liebend gerne. Aber ich lade Sie ein.« Ein Lächeln zauberte Grübchen auf ihre Wangen. »Um mich dafür zu bedanken, dass Sie mich vor Casper, dem freundlichen Geist , gerettet haben.«
Seine linke Augenbraue hob sich als Zeichen der Zustimmung. »Unten am Museum ist ein Imbiss. Kommen Sie, ein schneller Marsch wird Ihnen guttun. Wir nehmen die Abkürzung über den Golfplatz.«
Einvernehmlich liefen sie über die einsamen Grünflächen, bis sie zu den noch aufrecht stehenden Wänden des Gefängnisses der zweiten Besiedlungsphase kamen und dahinter ein Häufchen cremefarben gestrichener Häuser sahen.
»Marcus.« Sie legte ihm kurz die Hand auf den Arm, zog sie aber gleich wieder fort. »Bitte tun Sie mir den Gefallen, und erzählen Sie Simon nicht, dass ich hier gewesen bin. Er sagte mir, es wäre nicht gut für mich, auf den Friedhof zu gehen.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Womöglich hatte er ja Recht.«
»Natürlich. Es bleibt unser Geheimnis.« Es freute ihn, ein Geheimnis mit ihr zu teilen, von dem er hoffte, dass es nur das erste aus einer Reihe von vielen sein würde, doch als Realist bezweifelte er es. Genauso gut wusste er, dass aus seiner wachsenden Zuneigung zu Jessica Pearce nichts Gutes und kein dauerhaftes Glück entstehen konnte.
Zwei Tage nach Jessicas Besuch in Kingston begannen die Albträume.
Dabei begannen die Träume immer ziemlich friedlich mit einer Szene in einer Straße der Siedlung, der Quality Road, mit Menschen, Soldaten, Sträflingskolonnen mit klirrenden Fußeisen auf dem Weg zu ihrer täglichen Arbeit, einer Frau mit einem Korb, die ihres Weges ging, und ein paar Kindern, die auf der Straße spielten.
Dann erschien in ihrem Traum das Gesicht eines Mannes, das von einer schrecklichen Apparatur verdeckt wurde, durch die jeder seiner Atemzüge pfeifend aus seinem Mund kam.
Jessica erkannte das Gerät, sie hatte über diesen Knebelzaum gelesen, eine Form der Bestrafung, die ein Gefängnisaufseher jedem beliebigen Übeltäter auferlegen konnte, manchmal für das geringste Vergehen. Für Summen oder Singen, für die Worte »Oh, mein Gott!« während
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