Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
der Arbeit in der Sträflingskolonne, oder dafür, dass man nicht schnell genug lief. Nach heutigen Standards waren die Gründe unglaublich banal.
Der Erfinder des Knebels hatte gewusst, wie man Menschen quält. Das Zaumzeug wurde um den Kopf und den Hals geschlungen und besaß ein Stück Holzrohr mit etwa zehn Zentimeter Durchmesser, das den Mund des Mannes völlig ausfüllte. Nur durch ein kleines Loch im Rohr konnte er atmen, und auch das nur schwer, und er stieß die Luft mit einem hohen Pfeifen wieder aus.
In ihrem Traum erstickte der Mann, dessen Kleidung nur aus ein paar grauen Lumpen bestand, als Schleim die Öffnung im Rohr verstopfte. Seine Augen blickten angsterfüllt, und er fiel auf die Knie, wodurch er die Kolonne zum Stillstand brachte. Hustend, würgend und nach Luft schnappend griff er sich ins Gesicht, versuchte, sich die Maske abzureißen, was er jedoch nicht schaffte. Seine Nägel zerrissen seine Haut, und tiefe rote Striemen breiteten sich über seinen Wangen und der Stirn aus.
Ein Soldat kam hinzu, in der einen Hand das Gewehr, in der anderen eine kräftige Peitsche. »Steh auf, du fauler Sack! Hier wird nicht simuliert, mein Junge!«
Ein Stiefel knallte dem Mann in die Rippen und nahm ihm den Atem. Das Gesicht des Sträflings änderte die Farbe von weiß über rot nach blau.
Wieder trat der Soldat nach ihm und schrie: »Steh auf, oder es wird dir schlecht ergehen!«
Die Weigerung des Sträflings, aufzustehen, schien den Soldaten nur noch zorniger zu machen. Er begann, im Gleichtakt mit seinen Fußtritten mit der Peitsche auf ihn einzuschlagen, auf Schultern, Beine und Rumpf. Der Sträfling stöhnte unter den Schlägen, die auf ihn einhagelten. Bald war er unfähig, aufzustehen, unfähig, der Wut seines Peinigers zu entgehen.
Dann veränderten sich die Figuren im Traum.
Jessica bemerkte den leeren Ausdruck im Gesicht der anderen Sträflinge, während sie stumm zusahen. Sie hatten solche Szenen schon oft gesehen, so oft, dass sie immun waren gegen die Grausamkeit, mit der ein Mensch einen anderen wie ein Tier quälte. Nein, schlimmer als ein Tier.
»Lass ihn. Siehst du nicht, dass er stirbt, Mann?«, rief eine Stimme aus der Reihe der Gefangenen.
Der Soldat, den der Ungehorsam des Mannes in einen wahren Blutrausch getrieben hatte, konnte oder wollte nicht sehen, was geschah. Er schlug weiter auf den Wehrlosen ein, bis er nur noch ein blutiger, lebloser Klumpen war.
Plötzlich nahmen die Gesichter der Sträflinge dicht bei dem Gefallenen einen anderen Ausdruck an, verschlagen, wissend, wie in Zustimmung zu einem bereits vorher getroffenen Pakt. Sie nickten einander zu, als sich der Soldat schwer atmend von der Anstrengung erholte. Seine rote Jacke und die weißen Hosen waren mit dem Blut des Gefangenen bespritzt. Sein Gesicht war von der Anstrengung rot angelaufen, und Schweiß lief ihm auf den Uniformkragen.
Das Klirren der Ketten machte ihn auf die Bewegung aufmerksam, aber da war es bereits zu spät. Mehrere Sträflinge, die nahe genug waren, um ihn zu erreichen, entwanden ihm das Gewehr und die Peitsche. Sie wussten, dass ihnen kaum mehr Zeit blieb als eine halbe Minute, und schlugen ihn, seine eigenen Waffen als Keulen benutzend, genauso zusammen, wie er es mit ihrem Kameraden getan hatte. Dann knallten Schüsse aus Musketen, unter denen zwei Sträflinge fielen, drei andere wurden bewusstlos geschlagen, aus der Kolonne entfernt und in Zellen gebracht.
Drei Körper schwangen im Wind am Galgen, die Gesichter bläulich-rot, mit geschwollenen Zungen und hervorquellenden Augen …
Jessica wachte mit einem Ruck schweißgebadet auf.
Schläfrig stützte sich Simon auf einen Ellbogen und blinzelte sie an.
»Was ist los, Liebes? Schlecht geträumt?« Er gähnte. »Willst du darüber sprechen?«
Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie ihm von ihrem Traum erzählte, würde er wissen, dass sie in Kingston gewesen war, und das wollte sie nicht, weil sie fürchtete, er würde sie deswegen schelten. Sie zog die Decke fort und schwang die Beine aus dem Bett. »Ich mache mir ein Glas warme Milch, das beruhigt mich. Schlaf weiter.«
Es war der erste von vielen Träumen, die mit der Zeit zu schrecklichen Albträumen wurden. Jedes Mal ging es dabei um die Geschichte der Insel und darum, was den Sträflingen während der zweiten Siedlungsphase geschehen war. Die Albträume wurden regelmäßig – Szenen von Gefangenen in Fesseln oder von mehreren Sträflingen, die die Peitsche bekamen, während
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