Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
die Kälte noch dieser Geruch ergaben irgendeinen Sinn. Ihr Körper versteifte sich in dem Bemühen, dieser Invasion von Kälte Einhalt zu gebieten. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie genau so eine Kälte schon einmal gespürt hatte …
Sie war einmal am Mount Hotham Skifahren gewesen und hatte auf den Pisten die Orientierung verloren. Der gesunde Menschenverstand und Gespräche, die sie von anderen Skifahrern in der Hütte gelegentlich mit angehört hatten, sagten ihr, dass es am besten war, sich bergab zu halten. Doch als sich die Kälte und eine betäubende Erschöpfung bemerkbar machten, wurde der Wunsch, anzuhalten, sich in den weichen Schnee sinken zu lassen und ein paar Minuten auszuruhen, zunehmend stärker.
Jeder Muskel in ihrem Körper hatte geschmerzt von der Anstrengung, die Ski und Stöcke vorwärtszubewegen und zu versuchen, durch den Schnee etwas zu erkennen. Anhalten, Ausruhen, zu Atem kommen, weil sie immer weniger Luft bekam – jede Faser in ihrem Körper schrie danach, diesem Wunsch nachzugeben und der Natur ihren Lauf zu lassen.
Sie war nahe daran, unterkühlt zu sein und aufzugeben, als sie eine Gruppe Skifahrer gefunden hatte …
Es war eine heilsame Lektion für Jessica gewesen, die sie auch im Laufe von fast fünfzehn Jahren nicht vergessen hatte. Vielleicht hätte sie ihr sogar geholfen, die schlimmste Erfahrung ihres Lebens, Damians Tod, durchzustehen, wenn sie sich darauf hätte konzentrieren können, als sie Kraft brauchte.
Jetzt wusste sie nur, dass sie auf keinen Fall nachgeben durfte, sich nicht schwächen lassen durfte. Doch ihr Körper wurde so taub, dass sie sich nicht bewegen konnte. Selbst ihr Gehirn wollte nicht mehr arbeiten. Lieber Gott, was geschah mit ihr?
Mit einer verzweifelten Anstrengung versuchte Jessica, ihre Beine zu bewegen, bevor ihr Gehirn seine Funktion ganz einstellte und die notwendigen Informationen nicht mehr weiterleitete. Stolpernd wandte sie sich halb um und stürzte in die Arme eines Mannes.
»Jessica!«
Marcus Hunters ruhige, vernünftige Stimme brachte sie aus der Leere zurück, in die sie zu stürzen drohte, und sie klammerte sich an ihn wie an einen Rettungsring.
»Was ist passiert? Sind Sie krank? Was ist geschehen?« Marcus sah ihr verzerrtes Gesicht, die blasse Haut, den Ausdruck in ihren Augen, ihre Angst und die gehetzte Atmung. Er schloss sie in die Arme und streichelte etwa eine halbe Minute ihren Kopf, wobei er leise murmelte: »Es ist alles gut, Jessica, Sie sind in Sicherheit.«
Langsam spürte sie, wie seine Wärme ihren Körper wiederbelebte und damit auch ihre geistige Stärke zurückkehrte. Was war geschehen? Hatte sie einfach eine Panikattacke gehabt? Wenn ja, was hatte sie ausgelöst? Sie konnte sich an keinen Katalysator erinnern. Und hatte sie wirklich jemanden ihren Namen rufen gehört, oder hatte sie sich das nur eingebildet? Sie seufzte innerlich auf. So viele Fragen und keine Antworten!
»Möchten Sie darüber sprechen?«, bot ihr Marcus an, als er seinen Griff lockerte, wenn auch nur widerwillig. Es war schön, sie in den Armen zu halten, und es war schon viele Monate her, seit er eine Frau so gehalten hatte. Er riss sich zusammen und ließ sie los.
»Ich weiß nicht«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich … mir war auf einmal so komisch. Kalt, klamm, fast so, als ob ich ohnmächtig würde. Und ich habe gedacht, ich hätte Stimmen gehört …«
»Ich verstehe.« Er verzog nachdenklich den Mund. »Haben sie Ihren Namen gerufen?«
»Ja, tatsächlich.« Sie riss die Augen auf. »Waren Sie das?«
Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch das lockige Haar, um es aus der Stirn zu schieben. Er blickte sich auf dem Friedhof um und stellte fest, dass sie im ältesten Teil standen, wo viele Strafgefangene der ersten Kolonie bestattet lagen. Im Laufe der Jahre hatte er viele Geschichten gehört und sie als Unsinn abgetan, aber vielleicht …
»Ich glaube, Sie haben gerade etwas erlebt, was die Bewohner von Norfolk als eine Erscheinung bezeichnen.«
»Was ist eine Erscheinung?«
»Jessica, glauben Sie an Gespenster oder Geister?«
Erstaunt hob sie die Augenbrauen.
»Was?« Sie dachte einen Moment nach. »Nein, natürlich nicht.« Ihr Tonfall deutete an, dass sie die Vorstellung absurd fand. Welche moderne, gebildete Person würde zugeben, dass sie an so einen Unsinn glaubte? Damit klang man genauso verrückt wie die Geister angeblich waren.
»Nun, sei es, wie es wolle«, meinte Marcus, »und ich hatte
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