Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
die gesamte Handfläche zog. Der Lebenssaft bildete einen kleinen Fluss, dann eine Pfütze, die sich auf den Fliesen sammelte. Nan streckte sich aus, bekam das Abtrockentuch zu fassen und wickelte es Jessica so fest wie möglich um die Hand. Dann versuchte sie, die Hand hochzuhalten, während sie sich auf die Knie erhob.
Als sie die Vordertür klicken hörte, seufzte sie erleichtert auf. »Marcus? Bist du das? Komm schnell in die Küche!«
Marcus erfasste die Situation mit einem Blick. Er half Nan auf die Füße, bückte sich und hob Jessica mit erstaunlicher Leichtigkeit auf.
»Leg sie aufs Sofa. Sie ist ohnmächtig geworden. Ich habe keine Ahnung, warum.« Nan klang besorgt. »Wir haben uns über den Südwind unterhalten. Sie war neugierig wegen der alten Geschichten, die Mum uns über die sagenhafte Maddie Lynch erzählt hat. Und als der Wind aufgehört hat, hat sie aus dem Fenster gesehen und ist einfach ohnmächtig umgefallen. Ich wäre beinahe selber umgefallen vor Schreck.« Sie warf ihrem Bruder einen wissenden Blick zu, kniff die Augen zusammen und meinte, auf die bewusstlose Jessica weisend: »Vielleicht ist sie schwanger.
Als ich mit Liam schwanger war, bin ich auch einmal ohnmächtig geworden.«
Marcus nickte schroff, er hörte kaum zu. Seine Schwester neigte dazu, in einer Krisensituation zu viel zu reden. Es war ihre Art, damit fertig zu werden. »Nan, hol das Verbandszeug aus dem Badezimmer, etwas Kochsalzlösung und saubere Tücher. Sie wird von selbst wieder zu sich kommen, aber wir müssen uns um die Hand kümmern. Wir machen sie sauber und legen einen Druckverband an.« Er bemerkte, dass das Blut bereits durch das gefaltete Handtuch sickerte.
Er hörte Jessica stöhnen, und neben dem Sofa kniend strich er ihr die Haare aus der Stirn. »Alles in Ordnung, Jessica, Sie sind in Sicherheit.« Er wusste nicht, vor was sie sicher war oder ob es überhaupt etwas gab, vor dem sie sicher sein musste, aber er hoffte, dass die Worte sie beruhigen würden, wenn sie das Bewusstsein wiedererlangte.
Jessica öffnete die Augen. Sie versuchte, sich aufzusetzen, doch ein Rest Schwindelgefühl veranlasste sie, sich wieder in die Kissen fallen zu lassen. Ein paar Sekunden lang starrte sie ihn verständnislos an, doch dann erkannte sie ihn mit einem Aufseufzen. Marcus. Die reine Präsenz des Mannes, sein Optimismus, sein zuversichtliches Lächeln entspannten sie und ließen sie die gerade durchlebte Szene und ihre eigene verstörende Reaktion darauf verdrängen.
»Mich zu retten, scheint Ihnen eine liebe Gewohnheit zu werden«, murmelte sie.
»Bleiben Sie still liegen, und sprechen Sie nicht«, befahl er sanft. »Sie haben sich die Hand verletzt. Ich werde sie mir ansehen, aber ich fürchte, das muss genäht werden.« Er grinste sie schief an und fügte in seiner üblichen praktischen Art hinzu: »Glücklicherweise sind Sie Rechtshänderin. Sie werden also malen können, solange das heilt.«
Nan kam mit dem Verbandszeug zurück und erkundigte sich fürsorglich: »Wie geht es Ihnen, Jessica? Mein Gott, haben Sie mich erschreckt. Soll ich Simon anrufen?«
»Wir sollten uns zuerst die Hand ansehen, nicht wahr?«, schlug Marcus vor.
Doch er sollte Recht behalten. Der Schnitt war tief und musste genäht werden.
»Wir müssen Sie ins Krankenhaus bringen. Aber möchten Sie uns vielleicht vorher noch erzählen, was passiert ist? Was hat Sie ohnmächtig werden lassen?«, fragte Marcus, während er ihr eine sterile Mullbinde auf die Wunde legte, die er dann mit einer elastischen Binde so fest, wie sie es aushalten konnte, verband. Er hoffte, dass der Druck den Blutfluss aufhalten würde, bis sie behandelt wurde.
Jessica wedelte ziellos mit der gesunden Hand, eine ruhelose, nervöse Geste. Wie sollte sie etwas erklären, was sie selbst nicht verstand? Sie konnte ihnen auch nichts von ihrer Angst erzählen – der Furcht, dass sie anfing, Dinge zu sehen und zu spüren, die nicht existieren konnten und für einen normalen Menschen keinen Sinn ergeben würden. Sie machten ja für sie selber ebenfalls keinen Sinn. Denn trotz der Dinge, die ihr schon mehr als einmal geschehen waren, hielt sie sich selber noch immer für ziemlich vernünftig.
»Ich glaube, meine Fantasie hat mir einen Streich gespielt«, versuchte sie das Geschehene zu erklären. »Ich habe geglaubt, etwas zu sehen, was ich … eigentlich nicht hätte sehen können. Ich habe mich erschreckt und bin ohnmächtig geworden. Ende der Geschichte.« Sie blickte
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