Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
Nan an. »Es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt und unseren Tag im Atelier ruiniert habe.«
Nan rümpfte die Nase. »Das macht doch nichts, meine Liebe. Das holen wir nach.«
Doch Marcus wollte Jessica nicht so leicht davonkommen lassen. »Was haben Sie denn zu sehen geglaubt?«, forschte er, als er ihr vom Sofa aufhalf.
»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, es war nur sehr merkwürdig.«
»War jemand am Fenster?«
Unruhig blickte sie ihn an. War das reine Intuition, oder konnte er Gedanken lesen? »Warum fragen Sie das?«
»Ich versuche nur, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Nan sagte, Sie hätten aus dem Fenster gesehen, bevor geschah, was auch immer geschehen ist. Ich habe gedacht, vielleicht haben Sie etwas Ungewöhnliches gesehen, das Sie erschreckt hat.«
»In Hunter's Glen ist niemand außer uns«, warf Nan ein.
Marcus sah seine Schwester an und nickte ihr geheimnisvoll zu. »Ich weiß, Nan, aber wir wissen auch, dass bei Südwind gelegentlich seltsame Dinge passiert sein sollen.«
Nan nickte schweigend.
»Na gut. Solange Sie es Simon nicht erzählen. Er will mich so sehr beschützen und fürchtet, dass ich … nun, dass ich …«
»… nicht damit fertig werde«, ergänzte Marcus. »Erzählen Sie uns, was Sie gesehen haben, Jessica. Behalten Sie es nicht für sich. Sprechen Sie es aus, damit es Sie nicht mehr beängstigen kann.«
Ihre Brauen hoben sich. »Spricht jetzt der Historiker oder der Psychologe aus Ihnen?«
Er lächelte sie an. »Nur ein Freund.«
»Nun, ich habe aus dem Fenster gesehen, wie Sie vermutet haben. Ich konnte mein Spiegelbild sehen, und dann beschlug das Fenster plötzlich, und das Gesicht einer Frau tauchte an der Stelle meines eigenen Gesichtes auf. Ich glaube nicht, dass ich sie je zuvor gesehen habe.« Sie warf Nan einen Blick zu. »Vielleicht war es eine Darstellung der Frau, von der Sie gesprochen haben, Maddie Lynch. Es war nur seltsam, dass sie nur einen Kopf hatte. Keinen Körper. Und riesige blaue Augen, fast hypnotisch. Ich … ich konnte spüren, wie ich in diesen tiefen Augen versank, als ob sie versuchte, mich in sich aufzunehmen. Es war sehr merkwürdig. Dann wurde mir schwindlig, und den Rest kennen Sie.« Sie wandte sich um, um Marcus anzusehen. »Nun, bin ich jetzt verrückt oder nicht?«
Er grinste sie an. »Die wenigsten Verrückten fragen, ob sie verrückt sind. Sie glauben eher, dass die ganze Welt verrückt ist, nur nicht sie selber. Ich denke also, Sie sind es nicht. Was wahrscheinlich passiert ist, ist, dass eine der Folklore-Geschichten unserer Insel ihren Geist überreizt hat und Sie eine Art Tagtraum hatten.«
»Ist das möglich?«, zweifelte Jessica, nicht ganz überzeugt.
»Beim Gehirn ist fast alles möglich«, erwiderte er rätselhaft. »Ich glaube, wir bringen Sie jetzt lieber ins Krankenhaus. Unterwegs können wir uns überlegen, was wir Simon erzählen, okay?«
Er verstand. Verschwörerisch lächelte sie ihn an. »Okay.«
Oberschwester Sue Levinski klopfte einmal an die Tür mit der Glasscheibe, bevor sie Simons Büro betrat. Seit sie sich auf Nan Duncans Weihnachtsparty so danebenbenommen hatte, hatte sie geschuftet wie eine Wilde, um ihr Ansehen bei ihm zurückzugewinnen. Es hatte einige Zeit gedauert, aber sie hatte festgestellt, dass Simon nicht nachtragend war. Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte – hatte sie abgekanzelt –, und danach war ihre Beziehung langsam wieder zu einer freundschaftlichen Professionalität gewachsen. Der einzige Unterschied war, dass er nicht mehr von seiner Frau sprach. Das störte sie wenig. Sie interessierte sich nicht für Jessica, doch sie wollte, dass er ihr wieder vollständig vertraute. Daran wollte sie arbeiten und glaubte, dass bald alles so wie früher sein würde.
Simon war kein komplizierter Charakter, so viel hatte sie schon herausgefunden. Er ging in seiner Arbeit auf und versuchte, diese Arbeit so gut wie möglich zu machen. Außerdem wollte er Jessica beschützen. Das sagte ihr schon die Strafpredigt, die er ihr gehalten hatte. Und wenn Dr. Simon Pearce einen Fehler hatte, dann den, dass er freundlich war und dazu neigte, gut von den Menschen zu denken. Dieses Wissen, entschied sie, konnte sie zu ihrem Vorteil nutzen, sobald sie in seiner Achtung wieder gestiegen war und er ihr erneut völlig vertraute.
»Simon.« Sie sah ihn über einen Stapel Papiere gebeugt und wartete, bis er aufsah. »Ihre Frau ist hier in der Notaufnahme.« Sie versuchte die Nachricht
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