Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
abzumildern und fügte schnell hinzu. »Jessica geht es gut, aber sie hat sich die Hand verletzt.«
Simon wusste, dass Jessica bei Nan gewesen war. Schnell erhob er sich und ging zur Tür. »Wie ist das passiert?« Seine Fantasie überschlug sich. In seiner Vorstellung spielten sich die schlimmsten Unfälle mit einer Töpferdrehscheibe ab, bei der Finger zerquetscht und unheilbar verstümmelt wurden.
»Marcus Hunter ist bei ihr. Er sagt, es sei ein Haushaltsunfall gewesen. Sie hat sich die Hand an einer Geschirrscherbe zerschnitten, das ist alles.« Sie klopfte ihm einmal auf den Arm und sorgte dafür, dass ihr Gesicht die richtige Menge an Anteilnahme ausstrahlte. »Sie ist in Ordnung, Simon. Marcus hat sie gut versorgt. Sie braucht nur ein paar Stiche, nichts Schlimmes, wie Schwester Holbrook sagt.«
In der Notaufnahme saß Jessica auf dem Untersuchungsbett, ihre bandagierte Hand fast waagerecht ausgestreckt. Marcus sprach mit Schwester Holbrook, der stellvertretenden Oberschwester am Krankenhaus, und half ihr, die Einzelheiten in die Patientenakte einzutragen.
»Jess!« Simons Stimme klang besorgt und ein wenig enttäuscht. »Was hast du dir denn angetan?« Er registrierte die Blässe ihrer Haut und den Schmerz, den sie erfolglos zu unterdrücken versuchte.
»Ich habe mich in Nans Küche in die Hand geschnitten. Dumm von mir.«
Simon begrüßte Marcus. »Hallo. Sie haben erste Hilfe geleistet?« Er drehte Jessicas Hand um. »Ziemlich professionell. Wo haben Sie das gelernt?«
Marcus zuckte die Schultern. »Als Teenager auf dem Footballfeld. Irgendein Spieler hat sich regelmäßig ir gendein Körperteil verstaucht, gebrochen oder anderweitig verletzt. Der Trainer hatte mich inoffiziell zur medizinischen Betreuung abgestellt, bis der Arzt kam, obwohl ich ja viel lieber gespielt hätte. Ich habe dem Arzt so lange zugesehen, wie er Bandagen anlegt, dass ich weiß, was man im Notfall tut.«
Simon wickelte die Bandage um Jessicas Hand ab und bat Schwester Holbrook: »Machen Sie eine Lokalanästhesie fertig, Schwester.« Er sah Jessica an. »Alles in Ordnung?« Sie nickte zustimmend. »Die Betäubung piekst erst ein bisschen, aber dann spürst du nichts mehr.« Intuitiv fragte er: »Es klopft wie wild, nicht wahr?« Wieder nickte sie. »Gleich fühlst du es nicht mehr.«
»Gut«, lächelte sie vertrauensvoll. »Es ist das erste Mal, dass du mich zusammenflicken musst, nicht wahr?«
Mit einem leisen Grunzen meinte er: »Und ich hoffe, es ist auch das letzte Mal.«
Simon trat zurück, damit Schwester Holbrook die Wunde säubern konnte. Die Blutung hatte fast aufgehört, aber der diagonale Schnitt, fast sechs Zentimeter lang, ging tiefer als ihm lieb war. Eingehend betrachtete er die Wunde, um sicherzugehen, dass keine Sehnen verletzt waren. Doch das schien glücklicherweise nicht der Fall zu sein. Fünf bis sechs Stiche mit 5,0-Nylon sollten genügen, entschied er.
Jessica wandte den Kopf ab, als Simon so vorsichtig wie möglich an der Wunde zu arbeiten begann. Zufällig begegnete ihr Blick dem der Oberschwester, die in der Tür stand und sie beobachtete. Sie knirschte mit den Zähnen, um dem Schmerz nicht nachzugeben. Sie würde Sue Levinski nicht die Genugtuung geben, zu sehen, wie sehr es weh tat – und es tat weh, höllisch sogar. Hatte die Frau denn nichts Besseres zu tun?, fragte sie sich. Oder machte es ihr Spaß, Leute mit Schmerzen zu beobachten? Ja, beantwortete sie sich die Frage selbst, wahrscheinlich war es so.
»Doktor, soll ich Mrs. Pearce eine Tasse Tee machen?«, fragte Sue.
Simon nickte, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. »Gute Idee.«
»Nein danke«, lehnte Jessica ab. Missmutig entschloss sie sich, lieber zu verdursten, als dass sie es der Oberschwester erlauben würde, ihr einen noch so kleinen Gefallen zu tun. Sie hatte ein gutes Gedächtnis, und Sue Levinskis Worte und ihr Benehmen auf der Party hatten sich ihr tief ins Gehirn eingebrannt.
Die Oberschwester zuckte mit den Schultern und ging kurz darauf nachdenklich fort. Simons Frau war nicht dumm. Sie hatte den Versuch, die Missstimmung zwischen ihnen beizulegen, durchschaut. Sie erinnerte sich daran, was Simon erzählt hatte, nämlich dass sie eine sehr fähige Rechtsanwältin aus Perth sei. Scharfsinnig, intuitiv und siegesgewohnt. Hmmmm. Sue musste einen Weg finden, Jessica davon zu überzeugen, dass die Szene auf der Party ein Ausrutscher gewesen war und dass sie, Sue Levinski, Oberschwester am Norfolk Island Hospital, zu den
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