Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
Tage hatte sie die Frau schon beobachtet, die sich ihrer Macht bislang noch nicht ergeben hatte. Sie bewunderte die innere Stärke dieser Frau und verfluchte sie gleichzeitig.
Sie hatte Jessica über den Friedhof gehen sehen und hatte ihre Gefühle gespürt, als sie ein paar der herzzerreißenden Inschriften auf den alten Grabsteinen las. Sie war sicher, dass sie emotional reif war.
Ihr Warten hatte ein Ende. Jessica war die Richtige.
Sie sah, wie Jessica steif wurde und still wie eine Statue stand. Das war ein gutes Zeichen. Wie sie es gedacht hatte, war sie für ihren Willen formbar.
Ihre Energie zu kanalisieren – das hatte sie seit langem nicht mehr getan, und es barg sowohl für sie als auch für ihr Objekt Risiken, wenn sie sie jetzt so frei fließen ließ.
Doch sie wusste so gut, wie sie sich selber kannte, dass es sein musste.
Ihr Verlangen war stärker als ihre Furcht davor, ihre innere Kraft zu verlieren. Nach all dieser Zeit, der Wartezeit , wie sie es nannte, war die Gelegenheit gekommen, diesen Ort für immer zu verlassen. Und dann … würde sie frei sein!
»Der Wind lässt nach«, stellte Nan erleichtert fest. »Kommen Sie, wir gehen ins Atelier, dann zeige ich Ihnen den Glasierungsprozess.«
Jessica bewunderte im Stillen Nans Fähigkeit, das Wetter vorherzusagen, und sah aus dem Fenster. Was sie dort erblickte, bestätigte Nans Worte.
Der Sturm hatte sich gelegt. Die Bäume und Büsche um den Garten und das Gebäude, das man »die Scheune« nannte, weil die Hunters früher einmal ein paar Milchkühe gehalten hatten, kam langsam zur Ruhe, die Zweige hielten still.
Ein paar Sekunden lang starrte sie ihr eigenes Spiegelbild im Fenster an. Doch als sie sich abwandte, um Nan nach draußen zu folgen, stieg vor dem Glas plötzlich ein leichter Nebel auf. Verwundert beobachtete Jessica ihn. Der Nebel lichtete sich, und anstelle ihres eigenen Spiegelbildes sah sie das Bild einer anderen Frau.
Leuchtend rotes Haar, dessen Strähnen unter einer Art Kappe hervorlugten, und die größten blauen Augen, die sie je gesehen hatte, blickten unter geraden Augenbrauen intelligent in die Welt. Es waren die Augen einer magnetischen Persönlichkeit. Jessica zwinkerte, zu erstaunt über das Gesicht, um sich die Frage zu stellen, wie es ihr eigenes Spiegelbild ersetzen konnte. Wieder zwinkerte sie und erwartete, dass das Bild verschwand. Doch das tat es nicht.
Die Gesichtszüge der Frau waren attraktiv, ohne wirklich schön zu sein, und sie schien sehr gesund. Doch das Erschreckendste, was Jessica feststellte, war, dass dieser Kopf keinen Körper besaß!
Was zum Teufel … ging hier vor?
7
in nie gekannter Schrecken jagte Jessica über den Rücken und fuhr ihr in die Knie. Plötzliche Feuchtigkeit überzog ihre Haut, und ihre Nervenenden kribbelten erwartungsvoll. Sie war sich nur nicht sicher, warum.
Spielten ihre Augen ihr einen Streich? War das ein weiteres Zeichen dafür, dass sie die Kontrolle verlor?
»Kommen Sie, meine Liebe, lassen Sie uns hinübergehen.«
Sie hörte Nans Stimme wie aus einer anderen Dimension, obwohl sie direkt hinter ihr stand. Im nächsten Moment schien es, als ob ihre Hand, die die Kaffeetasse hielt, abrupt weich wurde, alle Kraft schien daraus zu weichen. Die Tasse glitt in die Spüle und schlug auf dem Geschirr auf, das sie zum Mittagessen benutzt hatten. Irgendwie verfing sich die Hand in dem Geschirr – Jessica merkte, dass sie keine Kontrolle darüber hatte. Sie zuckte zusammen, als ihr eine Scherbe in die weiche Haut an der Handinnenfläche schnitt.
Das Gespenst im Fenster lächelte, als ob es zufrieden sei, und verschwand dann.
Insgesamt hatte die Szene nur ein paar Sekunden gedauert, doch die Auswirkungen auf Jessica waren tiefgreifend. Ihr Kopf begann im Rhythmus ihres Herzens zu pochen.
Das Geräusch schwoll in ihren Ohren an zu einem ohrenbetäubenden Rauschen, und dann überkam sie ein Schwindelgefühl, als ob sich alles außer Kontrolle drehte, sodass sie nach der Spüle griff, um sich festzuhalten. Zu spät. Ihre Knie gaben unter ihr nach, und sie glitt zu Boden, dabei einen Küchenstuhl umreißend.
Nan, die Zierlichere der beiden, konnte ihre leblose Gestalt gerade noch auffangen, bevor ihr Kopf auf den marmorgefliesten Boden aufschlug. Ächzend vor Anstrengung versuchte sie, Jessicas Kopf in eine bequeme Lage zu bringen, und legte sie auf den Boden. Erst dann sah sie ihre Hand. Dunkles Blut strömte aus einem tiefen Schnitt, der sich fast über
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