Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
und trat ein, sah sie warten und lächelte sie schief und schuldbewusst an. »Hallo, Liebling. Tut mir leid, dass es ein bisschen spät geworden ist. Bin noch mit ein paar Leuten vom Krankenhaus was trinken gegangen.«
»Ein bisschen spät!« Jessica hob eine fein gezupfte Augenbraue. »Du hättest mir Bescheid sagen können«, warf sie ihm vor, während er von einem Fuß auf den anderen trat.
»Ich habe Sue darum gebeten. Hat sie nicht angerufen?«
»Ich habe keine Nachricht erhalten«, erwiderte Jessica spitz. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht angerufen, sondern es nur behauptet. Sie mochte und traute Sue Levinski nicht, trotz ihrer kürzlichen Annäherungsversuche.
Er zuckte mit den Schultern, doch dann fand er eine Entschuldigung. »Vielleicht warst du ja draußen im Garten und hast das Telefon nicht gehört.«
Das war nicht der Fall gewesen, aber es hatte keinen Zweck, jetzt wegen der Oberschwester eine Szene zu machen, denn zu ihrer Enttäuschung verteidigte Simon sie regelmäßig. »Du solltest etwas essen«, sagte sie und wies auf den Teller. Vor zwei Stunden war das noch ein leckeres Essen gewesen, jetzt war es nur noch eine aufgeweichte Pampe.
»Ich habe keinen Hunger, Jess. Ich habe mir etwas vom Chinesen geholt.« Er rieb sich über das Kinn. »Ich glaube, ich gehe ins Bett.«
»Willst du mir nicht verraten, was Marcus gesagt hat? Er hat mir erzählt, dass er zu dir wollte.«
Simon gähnte zweimal herzhaft. »Keine be un ru hi gen den Enthüllungen, Liebling. Wir sprechen morgen früh darüber. Ich bin erledigt.«
Jessica sah ihm nach, wie er unsicher ins Schlafzimmer wankte, und wurde wütend.
Verdammt! War es ihm nicht klar, dass sie nervös erwartete zu hören, was Marcus gesagt hatte, welche Prognose er ihm gegenüber geäußert hatte? Wie konnte er so selbstsüchtig, so … gefühllos sein?
Sie blinzelte enttäuscht und fragte sich: Was geschah mit Simon, dem Mann, der sie bedingungslos geliebt hatte, der ihr in all den Monaten im Sanatorium zur Seite gestanden hatte, der an sie geglaubt und sie unterstützt hatte? Seit sie nach Norfolk gekommen waren, schien er anders, härter geworden zu sein. Oder war es nur so, dass ihr, seit sie hierher gekommen waren, die Augen aufgegangen waren und sie mehr sah? Die Veränderungen waren so unmerklich vonstatten gegangen, dass sie es zuerst kaum bemerkt hatte. Dann kam eine wachsende Ungeduld, die Neigung, ihr nicht zu glauben, so als ob er der Meinung war, dass sie sich die Dinge, die ihr passierten, nur einbildete … um seine Aufmerksamkeit zu erringen. Ja, genauso hatte er sie angesehen, und zwar bei mehr als einer Gelegenheit.
Seufzend räumte sie die Teller fort und warf das Essen in den Mülleimer. Vielleicht war sie ja selbst daran schuld. Vielleicht bildete sie sich die Veränderung in ihm nur ein. Vielleicht war das ein Symptom ihrer Krankheit. Krankheit! Welche Krankheit? Sie unterdrückte die Tränen und stampfte mit dem bloßen Fuß auf den Boden. Sie war nicht krank! Sie war nicht geistig labil. Sie hoffte, dass Marcus das allen, die es interessierte, beweisen konnte.
Nachdem sie die Küche aufgeräumt hatte, ging sie ins Schlafzimmer und stellte fest, dass Simon in voller Kleidung quer über das Bett gefallen und eingeschlafen war. Sie versuchte, ihn auf seine Seite zu schubsen, aber es war unmöglich, ihn zu bewegen, also nahm sie sich ihr Kissen und eine Decke und ging zurück ins Wohnzimmer, um auf dem Sofa zu schlafen. Doch sie war noch viel zu zornig, um einschlafen zu können. Eventuell konnte sie eine Dusche beruhigen …
Dreißig Minuten später kehrte sie abgetrocknet und im Nachthemd mit einer Tasse Kaffee ins Wohnzimmer zurück, dankbar, dass die Dusche ihr Temperament hatte abkühlen können.
Sie ging in den Wintergarten, wobei sie es sorgfältig vermied, das Bild mit den vier Gesichtern anzusehen, das von der Staffelei entfernt und an die Wand am Fenster des Wintergartens gelehnt worden war.
Gestern hatte sie ein neues Gemälde begonnen. Ihre Wanderungen über die Insel hatten sie die gewundene Stockyard Road hinuntergeführt, bis sie schließlich eine lauschige Wiese erreicht hatte. Das grasende Vieh ignorierend war sie zum Rand der eingezäunten Weide gegangen. Simon's Water hieß die Stelle. Spät am Nachmittag waren Wolken über der Insel aufgezogen, die dem Meer einen silbrigen Glanz verliehen. Das Licht betonte die Silhouetten der Felsnasen im Wasser und der allgegenwärtigen Gruppen von Norfolk-Pinien, die
Weitere Kostenlose Bücher