Das Lied der schwarzen Berge
erleuchteten Baracken und die Baustelle unter dem Flutlicht der Scheinwerfer.
»Wie lange wirst du bei uns bleiben?« fragte Rosa und streichelte seine Hände, die auf ihren Knien lagen.
»Vielleicht zwei Jahre …«
»Zwei Jahre?« Sie hielt den Atem an. »Zwei ganze Jahre?«
»Ja.«
Auch ihm kam die Zeit unendlich vor … zwei Jahre, welch eine Fülle von Schicksal umschloß dieser Begriff. Welche Seligkeit von Liebe und Hingabe, welche Gefahren und welches Meer von Tränen, die geweint werden würden. Elena kam ihm in den Sinn – wirklich, er konnte an Elena denken, während er neben Rosa saß und ihre Schultern liebkoste. Das machte ihn verwirrt. Elena … sie hatte vor zwei Stunden wieder angerufen. »Ich bin krank«, hatte sie gesagt. »Ich bin krank vor Sehnsucht, Sascha. Ich sitze am Fenster und starre auf das schmutzige Wasser der Drina. Eine Brücke geht über sie, eine alte, gebogene Steinbrücke, und die Steine bröckeln ab und fallen ins Wasser. Eines Tages wird sie einstürzen, Sascha. So wie diese Brücke bin ich … jeder Tag ohne dich bricht ein Stück aus mir heraus. Ich schlafe nicht mehr – ich weine, ich esse nicht mehr – ich sitze am Fenster und träume von dir. Sascha, wann kommst du … Wann darf ich zu dir … mein lieber, lieber Sascha …«
Rosa rührte sich an seiner Seite. Wie ein Reh lauschte sie in die Nacht. Sie hatte ein Geräusch gehört, ein Scharren, das Hinabrollen von losgelösten Steinen. Sie wollte aufspringen, aber der Anblick, den sie beim Herumdrehen hatte, lähmte sie. Eine dunkle Gestalt hob sich gegen den Nachthimmel ab. Sie hob einen Arm, der Arm schnellte vor – mit einem grellen Schrei warf sich Rosa über Meerholdt und riß ihn mit sich zu Boden. Klatschend fiel der schwere Stein neben ihnen auf den Waldboden und rollte dann den Hang hinab.
Meerholdt schleuderte Rosa zur Seite und sprang auf. Er sah eine Gestalt, die den Hang hinauflief. Keuchend lief er hinterher, stolpernd übersprang er die gefällten Baumstämme und hetzte dem Walde zu. Die Gestalt blieb einen Augenblick stehen und blickte zurück. Dann rannte sie weiter und tauchte im Walde unter.
Als Meerholdt den Waldrand erreichte, ausgepumpt und mit Schweiß bedeckt, umgab ihn die Stille der Einsamkeit. Er lehnte sich an einen Baum und atmete schwer.
»Komm hervor, wenn du kein Feigling bist!« rief er laut. »Komm – wir sind allein! Wer seinen Gegner von hinten anfällt, ist ein erbärmlicher Schuft!«
Er lauschte. Nichts rührte sich zwischen den dunklen Stämmen. Zehn Schritte vor ihm, hinter einem Busch, kniete Jossip und hielt den Atem an. Seine Hände bluteten und schmerzten. Hätte ich ein Messer, dachte er. Mein Schurmesser, mein schönes, langes Schurmesser. Aber er war wehrlos, und mit seinen blutenden Händen wagte er nicht, dem Feind gegenüberzutreten. So kauerte er hinter einem Busch und sah zu, wie Meerholdt sich abwandte und hinabstieg zu Rosa.
Er traf sie im Garten hinter der Hütte Fedors wieder. Sie saß auf einer Bank und weinte. »Er wollte dich töten«, sagte sie leise. »Er hat den Stein nach dir geworfen.«
Ralf nickte. »Wenn ich nur wüßte, wer es war! Ich habe keine Feinde im Ort.«
Von der Seite her blickte Rosa auf sein Gesicht. Es war bleich im Mondlicht, kantig und ernst. Die blonden Haare lagen um seinen Kopf, klebrig von Schweiß. Er weiß nichts von Jossip – woher sollte er es auch wissen? Niemand hatte ihm gesagt, daß sie Jossip seinetwegen abwies und ihn schlug, als er den fremden Herrn beleidigte. Sie schämte sich, es ihm zu sagen, und Fedor und Marina schwiegen aus Angst vor der Rache Jossips. Noch lagen die Felle hinter dem Haus. Niemand rührte sie an. Und immer, wenn Fedor an der Stelle vorbeikam, an der er die abgestochenen Lämmer Jossips in der Nacht vergraben hatte, durchschauderte ihn Angst, daß dieses Blut einmal über sein Haus käme wie ein Fluch, der sich von Geschlecht zu Geschlecht vererbt.
»Du hast keine Feinde«, sagte sie langsam.
Meerholdt setzte sich zu Rosa und nahm ihre Hände.
»Du mußt von Zabari fort. Ich werde dich nach Plewlja bringen. Dort kannst du ruhig wohnen und niemand verfolgt uns.«
»Und du? Du kommst mit …«
»Ich muß hier bei meiner Arbeit bleiben«, wich er aus.
»Ich soll allein in die fremde Stadt gehen?«
»Ja.«
Ihre Augen waren traurig, sie schüttelte den Kopf. In diesem Schütteln lag eine Festigkeit, die keine Widerrede duldete. »Ich gehe nicht ohne dich …«
»Ich komme dich jede
Weitere Kostenlose Bücher