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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Er klopfte ihr zärtlich auf den Rücken.
    »Du weißt, ich liebe Herausforderungen.«
    »Ich gehe jetzt ins Bett«, sagte sie. »Es war ein langer Tag.«
    Kaum hatte Carol das Licht ausgemacht, da war auch schon der vertraute Plumps, mit dem Nelson auf das Fußende des Betts sprang. Es war schön, seine Wärme an ihren Füßen zu spüren, aber das war kein Ersatz für den Körper, von dem sie am frühen Abend noch gehofft hatte, ihn später an sich fühlen zu können. Und sie hatte sich noch nicht richtig ausgestreckt, da war’s natürlich auch mit der Schläfrigkeit vorbei. Die Erschöpfung war geblieben, aber in ihrem Kopf rasten die Gedanken. Gebe Gott, daß morgen nachmittag die Verstimmung zwischen ihr und Tony wieder verschwand. Den Stachel der Demütigung würde sie nicht so schnell los, aber sie war schließlich eine erwachsene Frau und eine ihrem Beruf verhaftete Polizistin. Er war von nun an für sie verbotenes Terrain, sie würde ihn nicht wieder in schwierige Situationen bringen, und da er jetzt wußte, daß sie das alles wußte, würde er vielleicht entspannen können. Wie auch immer, das Verbrecherprofil würde mehr als genug neutralen Gesprächsstoff zwischen ihnen abgeben. Sie konnte es kaum erwarten, was er da präsentieren würde.
     
    Auf der anderen Seite der schlafenden Stadt lag Tony in seinem Bett, starrte an die Decke und zeichnete imaginäre Straßenkarten in die Risse der Gipsrose. Er durfte die Nachttischlampe nicht ausmachen, denn statt einzuschlafen, würde die Dunkelheit sich auf ihn senken und ihn beengen. Schafe zu zählen hatte sich bei ihm nicht bewährt; in den langen, schlaflosen Nächten wurde Tony Hill zu seinem eigenen Therapeuten. »Warum hast du heute abend anrufen müssen, Angelica?« murmelte er. »Ich
mag
Carol Jordan. Ich möchte sie nicht in mein Leben einschließen, aber ich wollte sie auch nicht verletzen. Als sie deine einschmeichelnden Worte auf dem Anrufbeantworter gehört hat, muß das für sie wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein, nachdem ich ihr doch erklärt hatte, es gebe keine Frau in meinem Leben.
    Ein Außenstehender würde sagen, daß Carol und ich uns ja kaum kennen und daß das, was heute abend passiert ist, eine Überreaktion von ihr war. Aber Außenstehende haben keine Ahnung von den Bindungen, die sich aus dem Nichts bilden, wenn man bei einer Fahndung nach einem Mörder eng zusammenarbeitet und die Zeitbombe tickt, bis der Killer das nächste Opfer tötet.«
    Er seufzte. Er hatte sich wenigstens so weit unter Kontrolle gehabt, daß er nicht herausgeschrien hatte, was Carol überzeugt hätte, daß er nicht log, nämlich die Wahrheit, die er so fest in seinem Inneren verschlossen hielt. Was sagte er immer zu seinen Patienten? »Lassen Sie es heraus. Es spielt keine Rolle, was es ist, es auszusprechen ist der erste Schritt auf dem Weg, die Qual zu besiegen.«
    Was für ein verdammter Quatsch, dachte er verbittert. »Es ist nichts als ein weiterer Trick aus meiner Zauberkiste, dazu gedacht, meine laszive Neugier zu legitimieren, zurechtgeschneidert, die verwirrten Gedankengänge von Beknackten zu entwirren, die dazu getrieben werden, ihre Phantasien auf eine Weise auszuleben, welche die Gesellschaft nicht verstehen und dulden kann. Wenn ich Carol die Wahrheit gesagt hätte, das markante Stichwort ausgesprochen hätte, hätte das keinesfalls die Qual von mir genommen. Es hätte nur dazu geführt, daß ich mich noch mehr wie ein wertloses Stück Scheiße fühle. Es ist ganz in Ordnung, wenn ein alter Mann impotent ist. Ein Mann in meinem Alter, der ihn nicht hochkriegt, ist eine Witzfigur.«
    Das Klingeln des Telefons ließ ihn zusammenfahren. Er drehte sich auf die Seite und tastete nach dem Hörer. »Hallo?« sagte er.
    »Anthony, endlich! Oh, was habe ich mich nach dir gesehnt!«
    Der Anflug von Ärger, als er die heisere Stimme hörte, verflog so rasch, wie er gekommen war. Was hatte es für einen Zweck, sie wütend anzublaffen? Sie war nicht das Problem. Er war es. »Ich habe deine Nachricht gehört«, sagte er. Sie war nicht schuld an der peinlichen Situation mit Carol; es hätte keinen Grund für irgendwelche Peinlichkeiten gegeben, wenn er nicht das jämmerliche Zerrbild eines Mannes wäre. Er durfte nicht im leisesten daran denken, eine Beziehung mit einer netten, normalen Frau einzugehen. Er hätte es mit Carol vermasselt, wie er es bisher mit jeder Frau vermasselt hatte, der er nahe gekommen war. Das Beste, auf das er hoffen konnte, war

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