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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Weil die Welt es darauf anlegt, seine Talente sich nicht entfalten zu lassen. Er hat die egozentrische Weltsicht des verzogenen Kindes, und er erkennt die Auswirkungen seines Verhaltens auf andere Menschen überhaupt nicht. Er sieht nur die Auswirkungen der Geschehnisse in seinem Umfeld auf sich selbst.
    Er ist ein ausdauernder Phantast und Tagträumer. Seine Phantasien sind kunstvoll konstruiert und erscheinen ihm bedeutungsvoller als die Realität. In diese Phantasiewelt zieht er sich zurück, wann immer er das will und die Möglichkeit dazu hat, aber auch dann, wenn er im Alltagsleben Rückschläge erleidet oder sich Hindernissen gegenübersieht. Die Phantasien schließen wahrscheinlich Gewaltakte ebenso ein wie Sex und erstrecken sich eventuell auch auf fetischistische Elemente. Sie bleiben nicht statisch erhalten, sie verlieren an Stärke und müssen neu angefacht und weiterentwickelt werden.
    Er ist überzeugt davon, daß er die Phantasien, die sein Denken beherrschen, ausleben kann, ohne daß irgend jemand in der Lage ist, ihn davon abzuhalten. Er ist absolut sicher, daß er intelligenter als seine Verfolger von der Polizei ist. Daher stellt er keine Überlegungen an, wie er sich bei einer Festnahme verhalten soll. Er glaubt zu clever zu sein, als daß so etwas je geschehen könnte. Er war sehr gründlich bei der Beseitigung aller Spuren, und daher bin ich, wie ich Inspector Jordan bereits dargelegt habe, fest davon überzeugt, daß es sich bei dem Fetzen aus russischem Hirschleder am Fundort der vierten Leiche um ein gezieltes Ablenkungsmanöver handelt. Der Mörder beobachtet selbstverständlich die Ermittlungen sehr aufmerksam, und er wird sich ins Fäustchen lachen, wenn wir uns jetzt auf den Lederfetzen stürzen und seine Herkunft fest-
zustellen versuchen. Selbst wenn wir das schaffen würden – ich bin sicher, bei einer Überführung des Mörders werden wir nichts in seinem Besitz finden, das auch nur im entferntesten etwas mit dem Lederfetzen zu tun hat.
    Sollte er vorbestraft sein, so handelt es sich höchstens um Jugendstrafen. Mögliche Delikte wären in diesem Fall Vandalismus, Diebstahl, geringfügige Brandstiftung, Tierquälerei, Terrorisierung jüngerer Kinder, tätliche Bedrohung von Lehrern oder ähnliches. Im Lauf der Zeit hat es unser Mörder jedoch gelernt, sich unter Kontrolle zu halten, und ich nehme nicht an, daß er als Erwachsener jemals straffällig geworden ist.
    Er wird bestrebt sein, so weit wie möglich mit der Untersuchung Schritt zu halten, und er wird auf Publicity aus sein, soweit sie ihm den Ruhm und den Respekt einbringt, nach denen er so gierig ist. Es ist sehr interessant, daß das Grab von Adam Scott kurz nach dem zweiten Mord durch Schmierereien entweiht wurde. Es könnte ein Versuch des Mörders gewesen sein, das Profil seiner Verbrechen anzureichern. Möglicherweise hat er Kontakte zu Polizeibeamten, und wenn dem so ist, wird er diese Kontakte dazu nutzen, sich stets über den neuesten Stand der Ermittlungen zu informieren. Wir sollten alle Beamten der Kriminalpolizei anhalten, sofort ihren Vorgesetzten Meldung zu machen, wenn sie den Eindruck haben, von einem Außenstehenden ausgehorcht zu werden.
    Tony speicherte den Text ab und las alles noch mal durch. Einige Psychologen, mit denen er bisher zusammengearbeitet hatte, erstellten ausführliche Beurteilungen über mögliche Kindheitserlebnisse des Mörders und legten Prüflisten über Verhaltensweisen an, die der Mörder als Heranwachsender gezeigt haben könnte. Tony machte das nicht. Für diese Art der Information war noch Zeit, wenn man den Mörder gefaßt hatte und Richtlinien für seine Verhöre benötigte. Tony verlor nicht aus dem Auge, daß er es vornehmlich mit Polizisten zu tun hatte, die es gewohnt waren, auf die harte Tour mit Tatverdächtigen umzugehen, und die von seiner Arbeit nicht viel hielten; mit Männern wie Tom Cross, die sich den Teufel darum scherten, was für eine schreckliche Kindheit ihr Verdächtiger gehabt haben mochte.
    Der Gedanke an Tom Cross schärfte Tonys kritisches Auge beim Durchlesen seiner Ausarbeitung. Ihn vom Wert des Profils zu überzeugen, würde wohl eine alptraumhafte Angelegenheit werden.
     
    Die erste Ausgabe der
Bradfield Evening Sentinel Times
an diesem Tag wurde bereits kurz vor Mittag an die Straßenverkäufer ausgeliefert. Die Leute, die nach Wohnungen, Jobs oder Sonderangeboten der Geschäfte suchten, schnappten sich die Exemplare, ohne auch nur auf die Titelseite

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