Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
wahrscheinlich.«
»Aber ihr Jungs musstet doch auch im Haushalt helfen.«
»Ja, schon. Aber bei dir war sie schon sauer, wenn du keine Lust dazu hattest, bei uns hat sie das hingenommen, als wäre es normal. Und dann diese Dramen um die Schulaufgaben. Wehe, du hast eine schlechte Note nach Hause gebracht. Dabei war unser Problemkind ganz eindeutig Ivo.«
»Aber der hat ihr Bilder gemalt.«
»Ja.«
Wir schwiegen eine Weile, jeder in seinen eigenen Erinnerungen versunken, oder in Alex’ Fall, vielleicht auch schon wieder in seine Studien über die Fische. Skype installieren, notierte ich auf einen imaginären Notizzettel. Einen Drucker kaufen, dieses Foto von Amalie scannen, einen Telefonanschluss beantragen, Bewerbungen schreiben. In den vergangenen Tagen hatte ich eine Liste von Luxushotels in Mecklenburg erstellt, die Interesse an meinen Diensten als Barpianistin haben könnten. Zwei waren tatsächlich vage interessiert, in einem durfte ich vorspielen, ein weiteres bat um eine schriftliche Bewerbung.
»Heute Nachmittag treffe ich Monis Oma, die sich vielleicht noch an unsere Familie damals erinnern kann.«
»Und dann?«
»Amalie hat hier gelebt. 1949 ist irgendetwas geschehen, angeblich wurde sie krank und kam nach Berlin und ist dort gestorben, vielleicht wurde sie von russischen Soldaten vergewaltigt.«
»Und was würde daraus folgen?«
Nichts. Alles. Vielleicht war das nur eine weitere Lüge. Andererseits würde es die Abneigung meines Großvaters gegen Berlin und gegen die Russen begründen. Die schwarzen Jahre. Die Zeit nach dem Krieg. Man starb schnell damals. An Hunger. An Mangel. An Verzweiflung, war es nicht so? Während des Kriegs hatte Amalie das Lyzeum für höhere Töchter in Güstrow besuchen dürfen und dann doch kein Abitur abgelegt. Danach hatte sie als Hilfsschwester im Lazarett ausgeholfen, später dann in Sellin bei der Gemeindearbeit.
»Bist du noch da, Rixa?«
»Damals, nach meiner Geburt. Wenn ich plötzlich gestorben wäre und es hätte nie wieder jemand von mir gesprochen …«
»Was ist denn das jetzt schon wieder für ein Horrorszenario?«
»Das Gehirn ist doch manipulierbar. Man sieht, was man zu sehen glaubt. Und gerade ein Kind kann doch Phantasie und Wirklichkeit oft noch nicht unterscheiden.«
»Also gut, von mir aus. Wenn du damals gestorben wärst, wäre das wahrscheinlich ein Schock gewesen, ein Trauma. Schon allein wegen der Reaktion unserer Eltern. Aber wenn sie und alle anderen mir danach suggeriert hätten, dass es dich nie gegeben hätte –. Ja, möglich. Dann hätte ich ihnen wohl geglaubt.«
»Mehr als deiner eigenen Erinnerung.«
»Ja.«
»Vielleicht hat Mama Amalie also tatsächlich vergessen.«
»Sagt Onkel Richard das?«
»Er sagt zumindest, dass nach ihrem Tod niemand mehr über Amalie gesprochen hat.«
»Warum lässt du es nicht einfach so stehen, wie es ist? Ma wollte uns nichts von Amalie erzählen, wollte oder konnte, auch ihre Geschwister mögen nicht über sie reden, vielleicht müssen wir das einfach akzeptieren.«
»Aber warum hat Ma dann dieses Pfarrhaus gekauft? Und warum ist das Thema Amalie so ein Tabu?«
»Erzähl mir lieber von dir. Wie kommst du klar? Ist es in Sellin nicht viel zu einsam?«
»Und wenn Mamas Tod doch ein Unfall war?«
»Du drehst dich im Kreis, Rixa, merkst du das nicht?«
»Ich ruf dich wieder an, Alex. Grüß deine Fische.«
Ich stand auf und kochte Espresso. Fütterte Othello und schnitt für mich selbst einen Apfel auf, setzte mich damit auf mein altes Küchensofa aus Berlin, das nun als bislang einziges Möbelstück im Verandazimmer stand. Blassblauer Samt vor einer Wand, die ich in einem hellen Türkis gestrichen hatte, der Farbe, die der See vielleicht im Sommer annehmen würde. Einmal, Ende der Siebzigerjahre, waren wir von Poserin aus für ein langes Wochenende ins östliche Mecklenburg gefahren, in ein Dorf kurz vor der polnischen Grenze, wo wir Onkel Matthäus besuchten, der dort eine neue Pfarrstelle angetreten hatte. Eine Unmenge Mücken umschwirrte das Haus, noch mehr als in Poserin, ganze Heerscharen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wir fuhren zum Baden ans Haff, einer stinkenden, vor sich hin dümpelnden Salzlake, die sich bis zum Horizont dehnte. Es gab zwar auch direkt hinter dem Pfarrhaus einen See, aber der war von Algen überwuchert und voller Blutegel, deshalb wollten wir darin nicht schwimmen. Doch unsere Großmutter ließ sich von den Egeln nicht von ihrem Morgenbad abhalten. Stoisch
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