Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
mit Visitenkarten. Ich steckte eine ein, lief durch den Regen zurück zum Transit, fuhr zurück auf die Straße, nur um gut 200 Meter weiter erneut zu bremsen.
BARLACHMUSEUM. Ich folgte dem Hinweisschild in ein Wäldchen, lief wenig später als einzige Besucherin durch einen modernen Museumsbau in das Atelierhaus, in dem Ernst Barlach einst seine Skulpturen geschaffen hatte. Soldaten und Krieg, Flüchtende, Suchende, ein paar unbeirrt lächelnde Engel und Kinder. Regen trommelte ans Oberlicht, hellgraues Licht ergoss sich durch die hohen Scheiben, hinter dem Atelier führte ein Pfad bis zum Inselsee, in meiner Brust zerrte die Trauer um Ivo. Entartete Kunst. Für die Nationalsozialisten war Barlachs Werk das gewesen. Verhöhnt und verfemt. Bei der Vorstellung, dass mein Großvater das gutgeheißen, ja vielleicht sogar durchzusetzen geholfen hatte, krampfte sich alles in mir zusammen. Und meine Großmutter? Vielleicht hatte sie ja auch einmal andere Bilder als diese harmlosen Blümchen gemalt und nach Höherem gestrebt. Vielleicht war meine Mutter deshalb so stolz gewesen, dass ihr jüngster Sohn als Künstler reüssierte.
Güstrow ohne Schnee, bei Tage, sah anders aus als in meiner Erinnerung aus der Nacht, in der ich mit Wolle und Piet hier gewesen war. Zwei Backsteinkirchtürme überragten das Stadtzentrum, es gab auch ein Schloss in einem Park. Doch die Häuser am Marktplatz wirkten immer noch winzig im Vergleich zur Kirche. Ein paar Läden mit Töpfereien und Souvenirs hofften auf Touristen. Es gab auch die üblichen Billigketten, eine Dönerbraterei, zwei Hotels und eine Teestube. An einer verfallenen Fachwerkfassade schrie ein neongelbes Werbeplakat um Aufmerksamkeit für eine Erotikmesse. Daneben buhlte DJ-Hansi um Besucher für eine Ü-30-Party.
»Moni Scholtow schickt mich«, sagte ich, als ich im Pfarrgemeindeamt am Empfangstresen ankam. Die Sekretärin nickte und lächelte, bat mich nach hinten in ein düsteres Zimmer mit hohen Regalen, das sie Bibliothek nannte. Es roch nach dunklem, wurmstichigem Holz, und ich dachte, dass man die Farbe von Holz eigentlich gar nicht riechen kann, dass es mir aber trotzdem so vorkam. Vielleicht waren es die Ausdünstungen des Alters, die dieses ganz spezielle Aroma produzierten. Jahrzehnte, Jahrhunderte, die das Holz ausgetrocknet und verhärtet hatten, wie die Kirchenbänke in den Dorfkirchen, in denen wir früher mit den Retzlaff-Onkeln und -Tanten gesessen und gesungen hatten.
»So, hier. Die Kirchenbücher aus Sellin.« Die Sekretärin legte drei Kladden aus schwarzem, rissigem Leder vor mich auf den Tisch.
Ich schlug die erste auf, dann die zweite, fand den richtigen Zeitraum. 1942. 1943. 1944. Die Schrift meines Großvaters, seltsam vertraut. Eheschließungen, Konfirmationen, Beerdigungen, Taufen. In gestochen scharfen, leicht eckigen Druckbuchstaben hatte er diese Ereignisse des Gemeindelebens in die dafür vorgesehenen Rubriken eingetragen, in blauschwarzer Tinte, genau wie auf den Weihnachts- und Geburtstagskarten, die er uns Kindern geschickt hatte. 20. Dezember 1945. Dorothea Retzlaff, Tochter von Theodor Retzlaff und seiner Frau Elise, geborene Bundschuh. Ein Lichtblick inmitten all der Tode. Was hatte er gefühlt, als er das schrieb? Dankbarkeit, Freude? 23. Dezember 1945. Clara von Kattwitz und ihr Sohn Daniel. Nur drei Tage nach der Geburt meiner Mutter hatte er die beiden beerdigt. Mutter und Sohn, gestorben im Kindbett. War diese Clara die Freundin meiner Großmutter gewesen? War es ihr Kerzenleuchter, den ich nun wieder mit nach Sellin gebracht hatte? Und wenn ja, wie groß war der Schatten gewesen, den dieser tragische Tod auf die ersten Lebenstage meiner Mutter warf?
»Clara, ja, ich glaube, du hast recht. So hieß die letzte Gutsherrin des von-Kattwitz-Anwesens«, sagte Moni, als ich sie später in Sellin danach fragte. Sie sprang auf und begann in den Tiefen einer Schrankwand zu wühlen. »Irgendwo habe ich doch noch diesen Zeitungsartikel, den diese Journalistin damals geschrieben hat, als wir die neu renovierte Kirche eingeweiht haben.«
Wir saßen im rückwärtigen Teil des Hauses, im Reich ihrer Oma. Ich hatte Blumen aus Güstrow mitgebracht. Rote Tulpen, die verzweifelt falsch aussahen in dieser von Spitzenstores verhangenen Düsternis, in deren Zentrum ein Pflegebett die Metallgitterzähne bleckte.
»Eine Retzlaff. Soso. jaja.« Monis Oma war in ihrem Lehnstuhl zusammengesunken, ihre Pergamentfinger krallten sich um einen
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