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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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kämpfte sie sich durchs Schilf und die Algen und schwamm ihre Runden. Systematisch und methodisch pflückte sie sich danach die mit rotbraunem Blut vollgesaugten Würmer von den bleichen Waden.
Das ist doch nicht schlimm, Kinder, die sind doch nicht giftig.
    Warum fiel mir das jetzt ein? Ich wusste es nicht. Ich saß einfach still und dachte daran, während ich meinen Kaffee trank und zuschaute, wie sich der Tag durch die Wolken arbeitete. Es regnete immer noch, der Garten sah trostlos aus, Matsch und Geröll und blattloses Gesträuch, doch vielleicht würde er auf wundersame Weise erblühen, wenn der Frühling kam. Ein letzter Gruß meiner Großmutter. Eine Spur, die sie hier hinterlassen hatte.
    Elise Retzlaff, geborene Bundschuh. Ich versuchte mir vorzustellen, was sie wohl zu der Sauna gesagt hätte, die Ann Millner hatte bauen lassen. Versuchte mir vorzustellen, wie sie hier in diesem Zimmer gesessen hatte, nachdem ihre älteste Tochter gestorben war. War es ihr Wille gewesen, von hier fortzuziehen, zurück nach Poserin, wo alles begonnen hatte, auch Amalies Leben?
    »Das Wort deines Großvaters galt, Rixa. Immer, ohne Ausnahme. Meine Mutter hat das Zeit ihres Lebens bedingungslos akzeptiert. Sie hatte wohl auch keine andere Chance, schließlich war ihr Mann ja nicht nur ihr Ehemann, sondern qua seines Amtes auch noch ein Vertreter Gottes auf Erden, also jedenfalls durch Gott autorisiert. Die Frau sei dem Manne Untertan, so heißt es ja in der Bibel.«
    »Und Oma hat ihm tatsächlich immer gehorcht?«
    »Sie hat es gern getan, Rixa. Sie fand das richtig. Ich glaube, sie war sogar frommer als er, vor allem später, im Alter. Fast schon bigott, habe ich manchmal gedacht.«
    Und Amalie? Das hätte ich meine Mutter jetzt zu gerne gefragt. Das, und so vieles andere.
    Ich stand auf und ging nach nebenan zu den Umzugskisten, suchte in der mit den Bildern die Blütenminiaturen hinaus, die meine Großmutter als junge Frau getuscht hatte. Ein Maiglöckchen. Eine Rose. Eine Zinnie. Sie war begabt gewesen, keine Frage. Die Pinselstriche waren hauchdünn, die Blüten wirkten absolut naturalistisch. Sie musste Stunden an jedem der Bilder gesessen haben. Doch sie hatte keine Wurzeln an die Stiele gemalt, auch keine Vase – sie schwebten im Nichts, wirkten haltlos, verloren.
    Ich nahm die beiden Ölporträts meiner Großeltern aus dem Karton, stellte sie nebeneinander. Theodor und Elise. 1950. Sie sahen so unversehrt aus. Zwei schöne Menschen in den besten Jahren. Wie hatten sie still sitzen können und lächeln, nach dem Tod ihrer erstgeborenen Tochter? Und meine Mutter? Wenn Amalie tatsächlich von sowjetischen Besatzungssoldaten vergewaltigt worden war, dann muss ihre Rückkehr ins Pfarrhaus dramatisch gewesen sein. Entsetzlich. Zutiefst verstörend für ein kleines Mädchen. Oder war Amalie gar nicht mehr heimgekehrt, wurde sie sofort nach Berlin verschleppt? An dem Tag, an dem ich mich zum ersten Mal in einen Jungen verliebte, wurde meine Mutter regelrecht hysterisch.
Du weißt nicht, wie gefährlich das ist, Ricki, du bist noch viel zu jung.
Ich hatte sie ausgelacht, fand ihre Angst unerträglich spießig, lästig, eine Schikane. Ich war nicht naiv, doch ich wollte mich ausprobieren. Ich verstand nicht, warum sie deshalb regelrecht außer sich geriet. Jungs waren doch keine Verbrecher.
    Es gab zwei Routen, um von Sellin nach Güstrow zu fahren. An diesem Morgen entschied ich mich für die Nebenstraße, eine rumplige Piste durch einen Tunnel nassen Walds, die nach etwa sechs Kilometern durch ein Dörfchen namens Schabernack führte. TISCHLEREI BOLTENSTERN, das Holzschild an der Straße war nicht zu übersehen. Kommen Sie doch gern vorbei, hatte der Inhaber gesagt, als ich ihn anrief und nach den Arbeiten befragte, die Ann Millner bei ihm beauftragt hatte. Viel könne er mir zwar nicht über sie sagen, aber ja, er erinnere sich natürlich an sie. Sie habe pünktlich bezahlt, er habe auch noch ein paar Entwürfe für Regale für sie angefertigt, die hätte er noch, leider habe sie die Anfertigung dann ja doch nicht mehr beauftragt. Ich lenkte den Transit durch eine Pfütze auf den Hof und schaltete den Motor ab. Mir war nicht bewusst gewesen, wie nah bei Sellin sich diese Tischlerwerkstatt befand, sonst wäre ich schon früher hierhergekommen. Ich rannte zum Eingang, vorbei an nassen Brettern, fand ihn verschlossen. ›Wenn wir nicht hier sind, sind wir für Sie im Einsatz‹, stand auf einem Schild über einer Plastikbox

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