Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Plastiklöffel, mit dem sie ein Stück Käsekuchen zerbröselt hatte, ihre beinahe farblosen Augen irrlichterten über mein Gesicht, schienen zu prüfen, zu suchen, ohne etwas zu finden.
»Da, ich hab’s. Tatsächlich, da steht es. Die letzte Gutsherrin von Sellin hieß tatsächlich Clara«, rief Moni von hinten.
»War sie mit meiner Großmutter befreundet?«
»Das steht hier leider nicht.« Moni kam wieder an den Tisch und sank auf einen Hocker neben ihre Oma, streichelte deren Arm.
»Clara von Kattwitz«, wiederholte sie laut. »Kannst du dich an sie noch erinnern, Irmi? An Clara und Elise, die Frau des Pfarrers.«
»Clara, Clara.«
»Ja, genau.« Moni legte ihre Hand auf die Pergamentfinger, entwand ihnen mit sanfter Gewalt den Löffel, kratzte ein Quarkbröckchen vom Teller darauf, schob es Irmi in den Mund.
»Käsekuchen, den magst du doch so gern. Vielleicht hilft dir eine kleine Stärkung beim Denken.«
Die Alte lächelte, kaute, ließ mich nicht aus den Augen.
Ich lächelte ebenfalls, nickte. Wiederholte noch einmal die Namen, zeigte auf die Fotos. Dorothea. Elise. Theodor. Amalie.
»Versuch es doch noch einmal, Irmi. Für Rixa hier ist das so wichtig.« Monis Hand tupfte einen Quarkkrümel aus Irmis Mundwinkel, strich ihr über die Wange.
Es wäre so nicht gewesen, wenn meine Mutter zu alt oder zu krank geworden wäre, um allein für sich zu sorgen. Ich hätte sie nicht gepflegt, hätte das nicht geschafft, ja nicht einmal gewollt, und sie wiederum hatte nie auch nur angedeutet, dass sie das eines Tages von mir erwartete. Genauso wenig, wie sie je ein Wort des Verlangens geäußert hatte, meine Großeltern in den Westen zu holen und dort in ihren letzten Lebensjahren für sie zu sorgen. Die Grenze sei schuld, sagte sie, und wenn sie etwas beklagte, dann war es die Tatsache, dass keines der Möbelstücke aus ihrer Kindheit aus der DDR in den Westen geschickt werden durfte.
Alles in Ordnung hier, Rixa, mir geht es gut.
Sie hatte mich nicht mit ihren Sehnsüchten belästigt und ich war froh darum gewesen. Erleichtert. Ich hatte so getan, als ob ich ihr glaubte, dass sie keine Träume hatte und niemanden brauchte.
»Clara, Clara«, brabbelte Irmi.
»Es hat heute keinen Sinn mehr«, flüsterte Moni. »Die Erkältung der letzten Tage hat sie doch mehr geschwächt, als ich dachte.«
»Ich komme ein anderes Mal wieder.« Ein Versprechen ins Leere, es schien die alte Frau nicht zu erreichen.
Ich stand auf und begann die Fotos vom Tisch zu sammeln, ich schrie leise auf, als sich Irmis Hand auf die meine legte und sie mit überraschender Kraft festhielt.
»Er war schuld, er«, sagte sie, den Blick auf Amalies Foto gerichtet. »Sie war nicht böse, das darfst du nicht denken.«
Theodor, 1938
Warten. Warten. Draußen reißt der Wind das letzte Laub von den Bäumen. Wind, der nicht aufhalten kann, was in dieser Novembernacht seinen Lauf nehmen wird, im Gegenteil, er wird die Feuer, die bald unweigerlich auflodern werden, noch weiter entfachen.
»Du gehst noch aus?« Elise mit sehr dickem Bauch und müden Augen tritt zu ihm ans Fenster des Amtszimmers und zupft einen unsichtbaren Fussel von seinem Ärmel.
Der Winter kommt früh in diesem Jahr, schon trägt er den schwarzen Pullover über dem Hemd mit dem schmalen Kragen, das ihn als Pfarrer auszeichnet. Die falsche Kleidung ist das, falsch für diese Schicksalsnacht des 9. November, längst sollte er die Uniform angelegt haben und die von Amalie blitzblank gewichsten Stiefel.
»Der kleine Sohn von den Schultes, es geht wohl zu Ende mit ihm«, sagt Theodor.
»Aber da warst du doch heute Morgen schon. Willst du bei diesem Wetter wirklich noch einmal bis Wichmannsdorf laufen?«
»Warte nicht auf mich, geh schon zu Bett, wenn du müde wirst.«
Sie schmiegt sich an ihn und nickt, als sei das ein vernünftiger Vorschlag, dabei weiß er genau, dass sie wach bleiben wird, bis er wieder zu Hause ist, wenn auch nicht in dem Schaukelstuhl vor dem Küchenherd, sondern, wegen ihrer bald bevorstehenden Niederkunft, im Bett sitzend, mit einem heißen Kirschkernsäckchen an ihren ewig frierenden Füßen.
Er hat ihr nicht erzählt, dass nun jeden Moment Wilhelm Petermann vorfahren wird, um ihn abzuholen, nichts von dem bevorstehenden Feldzug, an dem er mitwirken soll, nichts von all den Gespenstern, die ihn plagen. Ein einziger Schuss eines Siebzehnjährigen auf einen deutschen Diplomaten im fernen Paris. Ein abscheulicher, heimtückischer Mord, gewiss. Aber
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